11. Wonach wir streben

11.4 Glück

Gehen wir weg von Beispielen, die sich nur auf die sozialen Bedürfnisse des Menschen beziehen, und sehen wir uns einen Wert an, der von vielen als der offensichtlich wichtigste angesehen wird: das Glück. Ich habe in 11.2 ja gerade erst kritisiert, dass Reichtum und Glück eben nicht gleichbedeutend sind. Haben wir damit das Grundziel jedes Menschen nicht bereits gefunden?

Ich kann die Beschreibung der Bedürfnispyramide abwandeln von „Bedürfnisse, die der Mensch hat“ zu „Dinge, die der Mensch braucht, um glücklich zu sein“. Und schon ist offensichtlich, dass ein Wertesystem auf der Basis von „Glück“ die gesamte Bedürfnispyramide abdecken würde, von ausreichend zu Essen bis zur Selbstverwirklichung.

Glück ist dabei, biologisch gesehen, zunächst einmal ein Rückmeldesystem unseres Körpers (Glückshormone). Was uns glücklich macht, ist dabei ein Mix aus Angeborenem und Gelerntem. Dass uns Essen glücklich macht, ist angeboren. Dass es einen Briefmarkensammler glücklich macht, seine Sammlung zu vervollständigen, ist erlernt.

Diese Beschreibung hilft uns aber kein Stück dabei, zu verstehen, was jemanden glücklich macht, wie eine glückliche Gesellschaft aussieht oder was für Folgen eine solche hätte. In letzter Näherung können wir uns natürlich wieder auf Freiheit und Reichtum zurückziehen: Wenn ich alles tun darf (Freiheit) und dafür genug Geld habe (Reichtum), dann kann ich alles tun, um glücklich zu werden. Es ist also verständlich, dass Freiheit und Wohlstand als die großen Verheißungen westlicher Demokratien gelten: Was jemanden glücklich macht, ist ja von Mensch zu Mensch verschieden. Mit Freiheit und Wohlstand kann jeder selbst danach streben.

Das große Problem, das ich dabei sehe, es bei Freiheit und Wohlstand als gesellschaftlichen Zielen zu belassen, ist, dass es bedeutet, dass jeder damit allein gelassen wird, mit diesen Hilfsmitteln nach seinem eigenen Glück zu streben. Nun heißt es zwar, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Aber wir haben in den vielen Zukunftsvisionen dieses Buches gesehen, um wie viel besser eine große Gemeinschaft darin ist, Ziele gemeinsam zu erreichen, statt jeder für sich allein. „Glück“ für alle als Ziel anzustreben, hilft also nicht dabei, Zukunftsvisionen zu entwerfen, die effektiv darauf hinarbeiten. Ziel für dieses Kapitel also verfehlt.

Ein zweites großes Problem ergibt sich aus der Definition von Glück als biologischem Zustand: Wenn Glück ein Rückmeldesystem unseres Körpers ist, ist es dann wirklich immer identisch mit dem, was wir eigentlich wollen? Wenn ich ein trockenes Buch lese, um mir Wissen anzueignen, dann muss ich mich vielleicht zum Lesen zwingen. Ich tue das, weil ich glaube, dadurch langfristig glücklicher zu sein. Zum Beispiel, weil ich dieses Wissen für meinen Wunschberuf brauche. Und klar, es ist super, dass der Mensch zu solch aufgeschobener Bedürfnisbefriedigung fähig ist (Planungsfähigkeit). Aber ich finde es problematisch, dass jemand, der stets dem Glück des Moments nachjagt (Hedonist), langfristig keineswegs glücklich wird. Sollte das kurzfristige Streben nach einem Ziel nicht auch langfristig dabei helfen, dieses zu erreichen?

Sehen wir uns das langfristige Glück an. Wenn uns unser Körper schon auf falsche Fährten lockt, was kurzfristiges Glück angeht, stimmt dann wenigstens langfristig Glück mit dem überein, was wir wirklich wollen? Aufgrund der Beschreibung von Glück kann ich es nicht beantworten. Es ist ja von Mensch zu Mensch unterschiedlich, was jeder wirklich will. Aber wie der menschliche Körper funktioniert und Glückshormone verarbeitet werden, das ist bei allen gleich. Daher hier ein Gedankenexperiment, anhand dessen jeder Leser selbst entscheiden kann, ob das vom Körper gemeldete Glück wirklich mit dem übereinstimmt, was er oder sie will:

Dir wird angeboten, dich auf eine Liege zu legen und an Kanülen anschließen zu lassen. Über eine der Kanülen wird dir Heroin gespritzt. Heroin führt zur Ausschüttung von Glückshormonen, du wirst glücklich sein. Mit richtiger Dosierung wird dafür gesorgt, dass deine Rezeptoren nicht abstumpfen, das Glück also langfristig anhält (solange du auf dieser Liege liegst). Die Liege ist ein technisches Wunderwerk, welches deinen Körper mit allem versorgt, was er braucht. Du könntest also auf dieser Liege gesund sehr alt werden. Und du wärst dein ganzes Leben lang sehr glücklich. Würdest du das tun?

Diese Frage muss jeder Leser selbst beantworten. Ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren, auf diese Liege gelegt zu werden. Und ich denke und hoffe, dass viele andere das genauso sehen. Aber warum ist das so?
Das liegt daran, dass Glück eben nur eine Annäherung an das ist, was wir wirklich wollen. Eine Intuition unseres Körpers. Aber eben eine, die durchaus auch falsch liegen kann. Jeden Menschen machen andere Dinge glücklich. Doch es gibt Dinge, die jeden Menschen glücklich machen, einfach aufgrund der Funktionsweise des menschlichen Körpers. Wir können mit unserem Verstand nur begrenzt beeinflussen, was uns glücklich macht. Wir können diese anderen Dinge aber trotzdem wollen.

Wir können also durchaus entscheiden, Dinge zu tun, die wir für richtig halten, obwohl sie uns nicht glücklich machen und auch langfristig nicht zu mehr Glück für uns führen. Vielleicht, weil wir andere Menschen unterstützen möchten oder eine Idee. Wir sind dabei nicht glücklich, aber tun doch das, von dem wir überzeugt sind.

Während also in ziemlich jedem Selbsthilfebuch „Glück“ als das selbstverständliche Ziel allen Strebens angesehen wird, suchen wir weiter. Nach einem Grundziel, welches nicht ad absurdum geführt werden kann. Und einem, welches jedem Einzelnen tatsächlich dabei hilft, Entscheidungen zu treffen. Oder einer Gesellschaft dabei, auszuwählen, welche Utopien sie realisieren will.