11. Wonach wir streben

11.3 Soziale Anerkennung und Nächstenliebe

Damit haben wir uns jetzt zwei Wertesysteme angesehen, mitsamt der historischen Umstände, aus welchen sie entstanden sind. Zum einen das Erreichen der globalen Gemeinschaft des Kommunismus. Zum anderen das ständige Streben nach mehr persönlichem Reichtum, mit der Verheißung, dies sei gleichbedeutend mit mehr Glück. Das erste Ziel kommt uns heute merkwürdig weltfremd vor. Das zweite mag uns die Augen rollen lassen, ist aber etwas, das jeder westliche Leser alltäglich in seiner Umwelt erlebt.

Weder Gemeinschaft um ihrer selbst willen, noch der durch das Streben nach Reichtum implizierte Egoismus, erscheinen mir als tragfähige Grundlagen für ein Wertesystem. Die Geschichte hat ihre Unzulänglichkeiten hinreichend aufgezeigt.

Für die Antwort auf die Frage, welcher Maßstab als Grundlage eines Wertesystems dienen könnte, möchte ich mit den Zielen starten, welche Menschen instinktiv zu erfüllen versuchen: ihren Bedürfnissen. Ein bekanntes Modell dafür ist die Bedürfnishierarchie nach Maslow:

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[57] CC BY-SA 4.0 Lizenz

 

Wir können mit wenig Überlegung auch hier wieder feststellen, wo die Probleme der Maßstäbe „Kommunismus“ und „Reichtum“ als Grundlage eines Wertesystems liegen. Als Maßstab zu wählen, wie gut eine bestimmte Art der Gemeinschaft realisiert wird, lässt die Spitze der Pyramide außer Acht, „Individualbedürfnisse“ und „Selbstverwirklichung“. Der Mensch soll nur als Teil der Gemeinschaft funktionieren.
Materieller Reichtum dagegen kann dabei helfen, jede der Pyramidenstufen zu verwirklichen. Aber je höher wir in der Pyramide kommen, umso unzureichender wird Geld allein, um sie zu erfüllen. Schon bei der Stufe „Soziale Bedürfnisse“ gilt: Gute Freunde kann man sich nicht mit Geld kaufen.

 

Als erste Idee eines anderen Maßstabes für ein Wertesystem möchte ich den Wert „soziale Anerkennung“ betrachten.

Wenn wir voraussetzen, dass eine Gesellschaft reich genug ist, dass niemand Hunger leiden oder obdachlos sein muss und ein gutes System zur Unterstützung in Notfällen existiert (die Ebenen „Physiologische Bedürfnisse“ und „Sicherheitsbedürfnisse“ also leicht zu erfüllen sind), dann wird Reichtum von den Menschen im Wesentlichen zur Erreichung sozialer Anerkennung eingesetzt - die Ebene „Soziale Bedürfnisse“. Für Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung macht es keinen Sinn, mehr an Geld auszugeben als angemessen. Um von den Nachbarn, Arbeitskollegen oder Freunden bewundert zu werden, kaufen sich dagegen viele Menschen ein großes Anwesen, jedes Jahr ein neues Auto, eine Yacht oder andere Luxusgüter. Diese Bedürfnisebene kann also beliebig viel an Ressourcen verschlingen. Was verhindert, dass überschüssige Ressourcen an Ärmere fließen, sowie unnötigen Ressourcenverbrauch bedeutet.91

Wenn wir erreichen könnten, dass etwas anderes als Reichtum zu sozialer Anerkennung führt, dann würde dies den Wert des Geldes oberhalb der tatsächlich sinnvollen Menge für jeden Einzelnen stark entwerten. Wodurch die Gesellschaft insgesamt gerechter würde: Reiche würden mehr Geld abgeben, Geld wäre gleichmäßiger verteilt, und eine gegebene Geldmenge würde viel mehr an Zufriedenheit und Bedürfniserfüllung der Menschen erzeugen.

Es ist ja nicht in Stein gemeißelt, was in der Gesellschaft zu sozialer Anerkennung führt. Das hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder geändert. Anschauliche Beispiele sind das Schönheitsideal und die Mode. Beides hat sich in den Jahrhunderten seit dem Mittelalter immer wieder stark gewandelt. Mal galten Menschen mit dünner Wespentaille als schön, mal füllige Frauen. Mal sehr helle und mal gebräunte Haut, mal zarte Gliedmaßen und mal Muskeln. Haar wurde verdeckt oder lang und offen getragen, oder es wurde mit Perücken Lockenfülle vorgetäuscht. Schnitte von Kleidern, der Wechsel von Gewändern zu Hosen. Es gibt unzählige Beispiele, die wenig mit Praktikabilität, dafür jede Menge mit den Vorlieben ihrer Zeit zu tun hatten. Und diese Vorlieben wurden von sehr vielen Faktoren beeinflusst. Vom Nahrungsangebot über das regionale Klima, Religiosität, Rückbesinnung auf antike Kulturen, bis hin zu den aktuellen Machtverhältnissen. In der heutigen Zeit haben Medien und Werbung einen großen Einfluss.

Während Reichtum seit der Antike stets zu sozialer Anerkennung geführt hat, so ist es natürlich nicht die einzige Quelle dafür. Neben politischer und religiöser Autorität, sowie dem sich wandelnden Schönheitsideal, etablierten sich ab der Aufklärung Bildung und Forschung als eigenständige Quelle sozialer Anerkennung. Forscher, Gelehrte und auch Lehrer hatten seitdem einen hohen sozialen Stand, sie waren Respektpersonen. Wenn es möglich ist, zusätzliche Quellen sozialer Anerkennung hinzuzufügen (wie Bildung und Forschung), dann bin ich sicher, dass es auch möglich ist, die Quelle „Reichtum“, wenn schon nicht zu entfernen, dann zumindest deutlich abzuschwächen (genauso, wie es heute in reichen Ländern keine Anerkennung mehr bringt, dick zu sein, weil man genug zu essen hat).

Soziale Anerkennung ist ein fester Bestandteil der Ebene „Soziale Bedürfnisse“ der Bedürfnispyramide und tief im Wesen des Menschen veranlagt (wir sind soziale Geschöpfe). Diese Triebfeder menschlichen Verhaltens für die Gesellschaft nützlicher zu machen (indem wir Reichtum als Faktor abschwächen) kann der Allgemeinheit große Vorteile bringen. Als grundlegendes Wertesystem ist es aber aus dem gleichen Grund ungeeignet wie der Kommunismus: Es lässt die darüber liegenden Ebenen der Individualbedürfnisse und der Selbstverwirklichung außer Acht - es definiert den Erfolg des Menschen nur darüber, wie andere ihn sehen.

Darüber hinaus macht „soziale Anerkennung“ als gesamtgesellschaftliches Ziel herzlich wenig Sinn. Will ich wirklich versuchen, eine Gesellschaft darauf zu optimieren, dass möglichst jeder eine hohe soziale Stellung gegenüber allen anderen hat? Das ist doch absurd! Soziale Anerkennung ist ein sehr nützliches Mittel, damit eine Gesellschaft zusammenhält und alle an einem Strang ziehen. Aber als Ziel, als das, was eine Gesellschaft erreichen will, taugt es nicht.

 

Sehen wir uns als nächstes den Wert der „Nächstenliebe“ an, welche Jesus gepredigt hat und das Christentum als Grundlage seines Wertesystems sieht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Für diese Betrachtung geht es also nicht darum, ob hilfsbereite Menschen Armen etwas abgeben oder an wohltätige Organisationen spenden. Lebt man „Nächstenliebe“ als seinen Grundwert, sind einem die Bedürfnisse anderer genauso wichtig wie die eigenen.

Wir haben als Gesellschaft große Hochachtung vor Einzelnen, welche ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen, um mit ihrer ganzen Kraft Armen und Kranken zu helfen, oder zum Beispiel ein Waisenhaus zu führen. Und wenn jeder mit ganzem Einsatz anderen helfen würde, hätten wir das Paradies auf Erden. Jesus hat eine vom Wert der Nächstenliebe bestimmte Gesellschaft das „Reich Gottes“ genannt. Wenn es also zu einer besseren Gesellschaft führen würde, wenn wir alle dem Wert der Nächstenliebe folgen würden, und die Idee dazu bereits seit Jahrtausenden existiert, warum tun es dann nur Einzelne, aber keine größere Gemeinschaft und kein Staat? Hat es vielleicht nur bisher niemand ernsthaft genug versucht?

Ganz ehrlich: Vielleicht! So oft entstehen neue Staaten nicht. Und so gut wie nie werden sie gegründet, um ein Wertesystem durchzusetzen. Für die christliche Kirche können wir nur festhalten, dass ihr Versuch nicht gut genug war (oder dass sie es nicht als Ziel hatte), wenn wir sie nicht als historischen Beweis dafür ansehen wollen, dass es nicht funktionieren kann.

Was wäre denn das Ergebnis dessen, „Nächstenliebe“ als Grundziel zu folgen?
Ich weiß es nicht. Die erste Frage, die ich mir stelle, ist, ob ich es wörtlich interpretieren soll:

Wenn es tatsächlich um die Emotionen geht, die ich empfinde, würde das bedeuten, dass ich meine eigenen Gefühle ändern soll, von dem, was sie normalerweise wären. Was mir extrem suspekt erscheint. Und wenn ich das gemacht habe, was dann? Brauche ich dann nicht immer noch etwas, auf das ich hinarbeite? Das ich versuche, für mich und die von mir geliebten Nächsten zu erreichen?

Wenn ich es dagegen im übertragenen Sinn verstehe, dann höre ich „Hilf deinem Nächsten wie dir selbst“. Aber auch dann stellt sich mir sofort die gleiche Frage: Hilfe wozu? Brauche ich jetzt nicht immer noch ein Grundziel, auf das ich für mich und für die Nächsten, denen ich helfe, zuarbeite?

In beiden Formen erscheint mir „Nächstenliebe“ somit nicht als ein Grundziel. Es scheint mir eine Aufforderung zu sein, das Grundziel, welches auch immer das ist, nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen zu erreichen.

Wenn man stattdessen darauf besteht, „Nächstenliebe“ als Grundziel zu sehen, müsste man stattdessen weiter denken und festlegen, dass Nächstenliebe ein Ziel um seiner selbst willen ist, genauso wie beim Kommunismus. Dass das Ziel also ist, eine Welt zu erschaffen, in welcher jeder seinen Nächsten liebt wie sich selbst, das Reich Gottes auf Erden.
Dann bekommt das Grundziel „Nächstenliebe“ das gleiche Problem wie Kommunismus und soziale Anerkennung. Es ignoriert die Individualbedürfnisse und die Selbstverwirklichung. Es betrachtet den Menschen nur in seiner Beziehung zu anderen. Die meisten Menschen könnten es daher nur als ein Ziel unter mehreren begreifen, nicht als das allen anderen übergeordnete, wollen sie sich darin wiederfinden. Es bräuchte einen anderen Menschen, damit Nächstenliebe als Wertesystem für alle funktioniert.

Auf der anderen Seite: Nur weil Kommunismus, soziale Anerkennung und Nächstenliebe als Grundlage eines Wertesystems nicht funktionieren, bedeutet das nicht, dass eine Gemeinschaft nicht viel tun könnte, um den jeweiligen Wert zu fördern und so eine bessere Welt zu schaffen! Es sollte nur jedem Einzelnen überlassen bleiben, ob er Teil einer solchen Gemeinschaft sein möchte oder nicht, um Exzesse fehlschlagender Versuche wie Diktaturen (Kommunismus) und Hexenverbrennungen (Nächstenliebe) zu verhindern.

Und genau diesen Experimentierraum stellen die Gemeinschaften meines Staatskonzeptes aus Kapitel 10 zur Verfügung! Genauso, wie sie es ermöglichen, damit zu experimentieren, wie Entscheidungen getroffen werden und welche Aufgaben die Gemeinschaft übernimmt, erlauben Gemeinschaften auch auszuprobieren, wie verschiedene Werte gefördert und gelebt werden können. Dabei bleibt es stets die Entscheidung jedes Einzelnen, ob er weiter daran teilnehmen oder die Gemeinschaft verlassen will. Das zentralisierte Bildungswesen verhindert dabei, dass Gemeinschaften ihre Kinder indoktrinieren können, ohne dass ihnen mögliche alternative Lebensweisen aufgezeigt werden.