11. Wonach wir streben
11.2 Kommunismus und Reichtum
Ein gemeinsames Wertesystem zu haben ist für einen Staat nicht nur sehr hilfreich, es kann sogar seine treibende Kraft sein, wenn es ein Alleinstellungsmerkmal ist. Womit wir bei zwei historischen Beispielen angekommen sind: Dem Freiheitsversprechen der USA, und der in der Sowjetunion gescheiterten Utopie des Kommunismus*.
Der Kommunismus war die letzte wirklich große positive Zukunftserzählung. Er wollte die Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens radikal verändern, besser machen. Den ständigen Konkurrenzkampf der Menschen untereinander durch eine kooperierende Gesellschaft ersetzen, die gemeinsam eine bessere Zukunft für alle erschafft, dank immer schnellerer Fortschritte von Wissenschaft und Technik.
Nur leider hat der Kommunismus daran geglaubt, dafür das Wesen des Menschen ändern zu können. Und auf dem Weg zu diesem unerreichbaren Ziel88 hat er zu Diktaturen, Gewaltherrschaft, Arbeitslagern und Hungersnöten geführt.
Aber unabhängig davon, dass er nicht funktioniert hat, finde ich es durchaus spannend, dass eine positive Erzählung in der Lage war, so viele Menschen zu begeistern. Nicht nur gegen etwas zu sein, sondern für eine positive Vision der Zukunft.
Aber was genau ist „Kommunismus“ eigentlich? Er ist das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft, in welcher alles (mindestens aber alle Produktionsmittel) der gesamten Gesellschaft gehören. Die gesamte Gesellschaft ist also eine einheitliche Bedarfsgemeinschaft, die zusammen wirtschaftet. Einen „Staat“ als davon unabhängiges Konstrukt braucht es damit nicht mehr.
Die Entstehung der Idee des Kommunismus, in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, fällt zusammen mit der Industrialisierung. Es ist offensichtlich, warum die Vision des Kommunismus auf arme Industriearbeiter unglaublich attraktiv gewirkt haben muss. Ihre Eltern oder Großeltern, vielleicht sogar sie selbst, waren vom Land in die Stadt gezogen, um Arbeit zu finden. Womit sie aus der Gemeinschaft eines Dorfes, dem gemeinsamen Bewirtschaften eines Bauerngutes, in die Anonymität von Fabrikarbeitern wechselten.
Auf der einen Seite waren sie genauso machtlos gegen die Ausbeutung durch den neuen Geldadel der Fabrikbesitzer, wie zuvor gegen die Ausbeutung durch den Landadel. Auf der anderen Seite hatten sie aber das Sicherheitsnetz von Dorf und Großfamilie nicht mehr, welches es auf dem Land gab. In der Stadt bedeuteten eine längere Krankheit, oder ein Arbeitsunfall, tiefe Armut oder Tod. Denn so etwas wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung, gab es ja nicht. Extrem lange Arbeitszeiten, Kinderarbeit und sehr schlechte Bezahlung bestimmten ihre Lebensumstände und verhinderten eine Vorsorge für Notlagen.
Ganz ähnlich, wie die Landwirtschaft und Sesshaftwerdung des Menschen für die Zivilisation als Ganzes einen großen Sprung nach vorne bedeutete (Bildung von Staaten, weit höhere Bevölkerungsdichte), für den einzelnen Menschen aber ein weit schlechteres Leben, erhöhte auch die Industrialisierung Wirtschaftsleistung und Reichtum der Staaten als Ganzes enorm, verschlechterte aber gleichzeitig die Lebensumstände der Menschen.
Der neue Reichtum blieb in den Händen weniger konzentriert: Bei den Besitzern der Fabriken und Produktionsmittel. Während aber die Sesshaftwerdung Jahrtausende her ist, nur noch in Legenden durchschimmernd, so war den Fabrikarbeitern das Leben auf dem Land, in Dorfgemeinschaft und Großfamilie, noch in lebendiger Erinnerung.
Ein gesellschaftliches System, das nicht nur den Zusammenhalt der Großfamilie zurückbringen, sondern ihn ausdehnen würde auf die gesamte Gesellschaft, den gesamten Staat, das war etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte!
Die Idee des Kommunismus entstand in den revolutionären Wirren Frankreichs im 19. Jahrhundert (in welchem sich von 1780 bis 1880 alle paar Jahre die Regierungsform änderte) und verbreitete sich von dort aus in die ganze Welt.
Im russischen Zarenreich war diese neue Idee dann erfolgreich. Infolge der Revolutionen von 1917 bildete sich eine Regierung, welche die Realisierung des Kommunismus als Staatsziel ansah - es entstand die Sowjetunion.
Und auch wenn es der Sowjetunion nie gelungen ist, den Kommunismus tatsächlich zu realisieren (das Land war sozialistisch, nicht kommunistisch, denn es gab ja weiterhin einen Staat, sowie Politiker, Militärs und Beamte, die mehr Macht hatten als die anderen Menschen im Land), wenn die Sowjetunion auch zu Arbeitslagern, Gewaltherrschaft und einer ineffizienten Wirtschaft geführt hat, so ist sie doch der historische Beweis dafür, dass die Begeisterung der Menschen für eine Vision die treibende Kraft eines Staates werden kann.
Der Kommunismus ist also eine (gescheiterte) Utopie, die große Menschenmengen motiviert und begeistert hat. Aber was ist das zugehörige Wertesystem? Denn um Wertesysteme soll es in diesem Kapitel ja gehen.
So merkwürdig das auch klingen mag, es ist der Kommunismus selbst. Das Ideal ist eine Gesellschaft, in welcher das höchste Ziel aller Menschen die Errichtung und der Erhalt dieser klassenlosen, gemeinsam wirtschaftenden Gesellschaft ist. Die Bedürfnisse des Einzelnen sollen hinter den Bedürfnissen der Gesellschaft zurückstehen. Was, wie bereits gesagt, einer der Hauptgründe dafür ist, dass der Kommunismus scheiterte: Er wollte das grundlegende Wesen des Menschen ändern, und musste dies auch, um funktionieren zu können.
Die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“[54], welche von 1963 bis 1976 in der DDR im Parteiprogramm der SED standen, verdeutlichen dieses Wertesystem des Kommunismus gut:
1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.
2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.
3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.
4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.
5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.
6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.
7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.
8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.
10. Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.
Als Gegenentwurf zum Kommunismus kann man die USA betrachten, mit ihrer Verheißung von Freiheit und Reichtum an ihre Bürger und Einwanderer. Wobei die USA ja bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts ein eigenständiger Staat sind und somit historisch gesehen das ältere der beiden Systeme. In der Unabhängigkeitserklärung der USA heißt es: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“[55]
Die USA waren stets ein Einwanderungsland. Für die europäischen Einwanderer89 war es diese Verheißung von Freiheit, die Chance auf Reichtum und Glück, die Aussicht, es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen zu können, welche sie alles zurücklassen und die Kosten und Strapazen einer wochenlangen Überfahrt auf sich nehmen ließen, um sich in den USA ein neues Leben aufzubauen.
Auf der Grundlage dieser Überzeugung, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden, haben sich die USA mit ihrer Unabhängigkeit gegen eine Monarchie mit Herrschern von Gottes Gnaden und für eine Demokratie entschieden, mit gewählten Volksvertretern und einem gewählten Präsidenten. Es hat lange gedauert, bis dieses Wahlrecht tatsächlich für alle galt, auch für Arme, für Frauen und für Ureinwohner. Erst 1965 wurden in den USA Einschränkungen des Wahlrechts auf staatlicher Ebene für illegal erklärt.[56] Im Vergleich zu Alleinherrschern oder Adelssystemen war die Demokratie der USA, trotz aller Einschränkungen, ein großer politischer Fortschritt für die Menschen.
Neben der Demokratie und den riesigen natürlichen Ressourcen, über welche die USA verfügen, war es vor allem der ungezügelte Kapitalismus, welcher ihre Erfolgsgeschichte begründete. Auch beim Kapitalismus waren Probleme offensichtlich: große Ungleichheit der Gesellschaft, rücksichtslose Naturausbeutung (z.B. Bisons), die Macht des Geldes in der Politik. Der Kapitalismus der USA hatte im Vergleich zu den europäischen Monarchien, und später dem angestrebten Kommunismus der Sowjetunion, jedoch den entscheidenden Vorteil, dass er funktionierte. Dass er in Kombination mit der Demokratie sowohl das Leben jedes Einzelnen deutlich verbesserte (materieller Wohlstand), als auch die Wirtschaft des gesamten Landes, und die USA so rasant zur Weltmacht aufsteigen ließ.
Von Anfang an waren ihre Verfassung, ihre Demokratie und ihre Art des Kapitalismus etwas, auf das die USA sehr stolz waren. Sie gaben dem Land das Sendungsbewusstsein, seine Ideale in der Welt verbreiten zu wollen.
Womit sie extrem erfolgreich waren. Sie haben die Grundzüge ihres Staatswesens (Verfassung oder Grundgesetz, gewählte Volksvertreter) in sämtliche westliche Industrienationen exportiert. Die ausschlaggebenden Regeln des Kapitalismus (Eigentumsregeln, Patente, Firmenstrukturen) gelten heute im wesentlichen weltweit.90 Die USA machen einen fantastischen Job darin, auch das Streben nach Reichtum und Glück in die Welt zu exportieren. Von Hollywoodfilmen über Coca Cola und Mac Donalds Filialen bis zu Internetunternehmen wie Google, Apple und Facebook.
Es hat einen guten Grund, dass ich in dieser Beschreibung „Glück“ und „Reichtum“ gleichbedeutend benutzt habe. Die USA und der Kapitalismus amerikanischer Prägung tun dies nämlich auch. Für die Einwanderer in die USA, die oft mit nur sehr wenigen Habseligkeiten in Amerika ankamen, war dies offensichtlich so. In vielen Fällen war Armut der direkte Anlass für ihr Auswandern aus Europa. Wenn jede unerwartete große Ausgabe oder jeder Ausfall des Einkommens direkt existenzbedrohend sind, wenn mehr Geld besseres Essen, warme Kleidung und eine beheizte Wohnung bedeuten, wie es für Arbeiter zur Zeit der Industrialisierung der Fall war, dann bedeutet mehr Geld tatsächlich sehr direkt ein besseres Leben und somit mehr Glück.
Es liegt in der Natur des Kapitalismus, dass dieser Zusammenhang als selbstverständlich angesehen und stets weiter verstärkt wird, selbst dann, wenn man eigentlich nicht noch mehr Geld bräuchte, um glücklich zu sein.
Die Erklärung dafür ist einfach: Jedes Unternehmen will immer mehr Waren verkaufen und größeren Gewinn erzielen, und versucht dies (neben besseren Produkten) durch Werbung zu erreichen. Jede Werbung versucht, die Konsumenten davon zu überzeugen, dass sie genau dieses Produkt genau dieses Unternehmens benötigen, um glücklich zu sein (Wecken eines Bedürfnisses). Durch ständigen Wettbewerb wurde Werbung in den USA über Jahrzehnte perfektioniert (und findet sich heute natürlich in derselben Form in allen westlichen Industrienationen). Was letztendlich auch eine Perfektionierung der Vermittlung der Botschaft „Reichtum ist Glück“ an die gesamte Bevölkerung bedeutet.
Wenn ich den Anhängern von Verschwörungstheorien in einem Punkt zustimme, dann in diesem: Dies ist eine Form der Gehirnwäsche, der wir alle systematisch ausgesetzt sind. Aber nicht, weil eine geheime Weltregierung es so befiehlt, sondern einfach, weil es eine natürliche und erwartete Folge eines ungebremsten Kapitalismus ist.