11. Wonach wir streben

11.5 Entfaltung

Ich habe den Begriff „Entfaltung“ in Petra Bock's Buch „Der Entstörte Mensch“[59] kennen gelernt. Den Grundgedanken dahinter kenne ich schon lange, ich hatte nur keinen so guten bildlichen Vergleich, um ihn zu beschreiben.92

Beim Grundziel der Entfaltung geht es darum, möglichst viel vom eigenen geistigen Potential auszuschöpfen. Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, Erfahrungen zu machen, die Welt besser zu verstehen, eine reichere eigene Gedankenwelt zu haben. Als ein Grundziel: Die Entfaltung der eigenen Person.

Ebenso wie Reichtum und Glück, muss auch Entfaltung nicht egoistisch sein: So wie man Reichtum oder Glück für seine Gesellschaft anstreben kann, kann man dies auch für das Ziel Entfaltung tun. Im Gegensatz zu „Glück“ kann man hier für eine Gesellschaft viel konkreter zuordnen, was dazu führt und was nicht - Entfaltung hat eine feste Bedeutung.

Entfaltung ist das Grundziel, das ich für mich selbst gefunden habe. Und es ist die Grundlage, die allen Zukunftsvisionen dieses Buches zugrunde liegt. Wir werden uns dieses Grundziel daher deutlich genauer ansehen, es von allen Seiten betrachten und auf Schwachstellen prüfen, wie einen Edelstein. Ich möchte vorweg noch einmal betonen: Entfaltung als Grundziel ist ein Vorschlag, den ich hier präsentiere. Für das Entwerfen von Zukunftsvisionen, für Mitstreiter bei ihrer gemeinsamen Umsetzung, für jeden einzelnen im eigenen Leben. Wem die bisherigen Zukunftsvisionen gefallen haben, hat eine gute Chance, auch dieses Grundziel gut zu finden. Ich bin aber schon zufrieden damit, meinen Lesern diese Möglichkeit vorzustellen. Ob und was man damit macht, ist jedem Einzelnen selbst überlassen.

Fangen wir mit einem Blick auf die Bedürfnispyramide an. Decken wir mit Entfaltung all ihre Ebenen ab, wie mit Glück? Oder fehlen einige, wie bei Kommunismus und Nächstenliebe?
Ich denke, es ist offensichtlich, dass alle Stufen abgedeckt werden:

• Physiologische Bedürfnisse: Ohne ausreichend zu Essen und körperliche Unversehrtheit werde ich mein Potential nicht entfalten können.

• Sicherheitsbedürfnisse: Wenn ich in ständiger Angst lebe, werde ich mein Potential nicht entfalten können, da Sorge und Angst meine Gedanken beherrschen.

• Soziale Bedürfnisse: Wenn ich einsam bin, werde ich mein Potential nicht entfalten können. Der Mensch ist ein soziales Geschöpf, wir brauchen soziale Kontakte, Kommunikation und Feedback, um uns weiterzuentwickeln.

• Individualbedürfnisse: Stärke, Unabhängigkeit und Erfolg sind Mittel für die Entfaltung des eigenen Potentials, und ihr Ergebnis. Genauso werde ich soziales Prestige erreichen, wenn ich mein eigenes Potential ausschöpfe.

• Selbstverwirklichung: Das ist das Konzept der Entfaltung! Es steht in der Maslowschen Bedürfnishierarchie also schon da, an ihrer Spitze!

Ich möchte hier aber auf einen wichtigen Unterschied zur Selbstverwirklichung nach Maslow hinweisen: Bei Maslow wird Selbstverwirklichung sehr allgemein definiert:

„Es geht dabei um den Wunsch bzw. die Tendenz, das eigene Potential auszuschöpfen, also das zu werden, was einem anlagebedingt überhaupt möglich ist (Entelechie). In welcher Form sich dieses Bedürfnis letztlich ausdrückt, ist somit im höchsten Maße vom Individuum selbst abhängig (eine gute Mutter sein, ein Athlet, ein Erfinder usw.).“

Die Entfaltung, so wie ich sie verstehe und hier als Grundziel präsentiere, bezieht sich im Gegensatz dazu nur auf das geistige Potential. Die Ausschöpfung des eigenen Potentials in anderer Hinsicht ist nur Mittel zum Zweck, indem sie zu Fertigkeiten, Erfahrungen und einem besseren Verständnis der Welt führt. Ich bin also nicht bestrebt, dass ein Stein so sehr Stein ist, wie ihm das anlagebedingt möglich ist...

Menschliche Bedürfnisse können also alle aus dem Blickwinkel der Entfaltung betrachtet werden. Aber was macht das für einen Unterschied? Beim Grundziel Reichtum hatten wir festgehalten, dass dieses Ziel zu falschen Entscheidungen führen wird, die nicht dem entsprechen, was wir wirklich wollen. Bei „Glück“ war es sehr schwer zu überschauen, da wir oft selbst nicht wissen, was uns glücklich machen wird. Bei sozialer Anerkennung läuft es meist auf die Frage „Was denken die anderen?“ hinaus, statt aus sich selbst heraus eine Antwort zu geben. Wie also sieht es bei Entfaltung aus? Zu welchen Entscheidungen komme ich, wenn ich sie anhand dieses Grundziels treffe? Was für Meinungen habe ich zu gesellschaftlichen Fragen? Hier ein paar Beispiele, mit Skizzierung des jeweiligen Gedankenganges:

• Bin ich für oder gegen KI? Würde ich sie selbst benutzen?
Antwort: Ich bin für KI, solange sie mir dabei hilft, mein geistiges Potential zu entfalten, als Denkhilfe also. Wenn sie das Denken für mich dagegen komplett übernimmt und ich nicht mehr gefordert werde, würde ich sie nicht benutzen.

• Was halte ich von Automatisierung, der Übernahme monotoner Tätigkeiten durch Roboter?
Antwort: Ich bin für Automatisierung. Weil sie dazu führt, dass ich weniger monotone Arbeit machen muss und stattdessen mehr künstlerisch und schöpferisch tätig werden kann. Es führt für mich zu mehr Möglichkeiten der Entfaltung. Das setzt natürlich voraus, dass die Automatisierung nicht zu einer starken Konzentration allen Reichtums führt. Geld ist auch für das Ziel der Entfaltung wichtiges Mittel zum Zweck. Sowohl um Grundbedürfnisse zu befriedigen, als auch um Fähigkeiten zu erlernen und Erfahrungen sammeln zu können.

• Zur Abwechslung etwas ganz Triviales: Ich gehe in eine Gaststätte. Was bestelle ich zu essen?
Antwort: Ich schaue mir die Speisekarte an und prüfe, ob ich etwas Ungewöhnliches entdecke. Wenn ich etwas sehe, von dem ich nicht einschätzen kann, ob es mir schmeckt oder nicht, dann wäre das meine erste Wahl. Hier mache ich die größte neue Erfahrung. Finde ich nichts dergleichen, gehe ich ganz normal danach, worauf ich am meisten Appetit habe (da ich ja alle Gerichte einschätzen kann).

• Ich habe die Chance, etwas völlig Neues zu machen, vielleicht weil mich Freunde dazu einladen. Nehme ich die Chance war?
Antwort: Tendenziell ja. Auf der Plus-Seite steht eine neue Erfahrung, was ich an sich wertschätze. Das wäge ich gegen den Aufwand an Zeit und Geld ab, und was ich durch diese Aufwendungen verliere (Opportunitätskosten). Ferner sehe ich mir die Risiken an, die durch die Teilnahme entstehen. Gibt es ein Gesundheitsrisiko? Ein Risiko, dass mein Ansehen leidet oder ich unerwünscht eine dauerhafte Verpflichtung eingehe? Sehe ich nirgends ein Problem, würde ich es machen. Gerade eben, weil ich nicht einschätzen kann, ob es mir gefallen wird oder nicht.

• Ernähre ich mich vegetarisch?
Antwort: Das Grundziel „Entfaltung“ hilft mir bei dieser Entscheidung nicht weiter. Es ermutigt mich, eine Chance wahrzunehmen, einen anderen Ernährungsstil zu testen, den ich nicht einschätzen kann, als neue Erfahrung. Auf die Frage, ob es moralisch geboten ist, kommen wir gleich noch einmal zurück, wenn wir den Bezugsrahmen der Entfaltung ändern.

Ich könnte diese Beispielliste schier endlos fortführen! Was wir hier machen, ist genau das, was ich versprochen habe: Den Edelstein „Entfaltung“ von allen Seiten zu betrachten und auf Schwachstellen zu prüfen. Ich selbst habe nie ein Beispiel finden können, wo mir diese Betrachtungsweise eine widersinnige Antwort gegeben hätte, mit der ich instinktiv nicht einverstanden bin.

Nun habe ich in diesen Beispielen mit Absicht den Fokus eng gehalten: Es geht um meine Entfaltung, und ich betrachte allein die Auswirkungen von Entscheidungen auf mich selbst. So egoistisch muss man aber natürlich nicht denken und ich tue es auch nicht. Was, wenn man den Bezugsrahmen ändert? Wenn man die Entfaltung von mehr als nur sich selbst anstrebt? Der eigenen Kinder und Partner, der Freunde, der ganzen Gesellschaft, oder gar von allem?

Jetzt wird es richtig spannend! Die erste und wichtigste Feststellung ist, dass das nicht selbstlos ist. Anders als bei Nächstenliebe, wo die offensichtliche Frage war, wozu ich den anderen denn verhelfen will, ist das hier ganz klar: Entfaltung. Es geht mir also nicht darum, den anderen dabei zu helfen, ihre eigenen Ziele zu erreichen. Zumindest nicht direkt. Es geht darum, dass ich andere in die Richtung lenke, die ich selbst für richtig halte: Ihr geistiges Potential auszuschöpfen. Natürlich werde ich dazu berücksichtigen, was sie selbst wollen, da wo ich es weiß. Wenn jemand selbst eine bestimmte Fertigkeit lernen will, wird er dazu viel motivierter sein, als wenn er es mir zuliebe tut. Mit jemandem am selben Strang zu ziehen erreicht weit mehr, als gegeneinander zu arbeiten. Aber ich kann die Entfaltung auch auf Personen beziehen, deren Ziele ich nicht kenne, und trotzdem zu sinnvollen Entscheidungen kommen!

Was versuche ich also in verschieden großen Bezugsrahmen zu tun, wenn ich andere Personen in mein Grundziel „Entfaltung“ einbeziehe?

• Familie und Freunde: Ich ergreife Chancen, eigene Fähigkeiten anderen beizubringen. Ich helfe ihnen dabei, die Welt zu verstehen. Ich suche tiefgreifende Gespräche, um mich über meine und ihre Einsichten auszutauschen und sie anzuregen, tiefgreifenden Fragen nachzugehen. Und im Gegenzug prüfe ich so für mich selbst die Dinge, die ich für wahr halte. Ich halte es für besser, wo möglich Aufgaben zusammen zu erledigen, für den dadurch automatisch stattfindenden Wissensaustausch. Somit sehe ich ab diesem Bezugsrahmen Kooperation (hier mit Familie und Freunden) als einen Wert an sich, anstatt als etwas, das ich nur tue, weil ich mir einen eigenen Vorteil davon verspreche.

• Gesellschaft: Ich versuche, ein Werk zu erschaffen, dass anderen bei ihrer eigenen Entfaltung hilft. Wenn ich ein Computerspiel programmiere, dann mache ich daraus keine Skinnerbox93, selbst wenn die Spieler darin glücklich sind. Stattdessen würde es ein Spiel werden, das die Spieler zum Nachdenken anregt und ihnen neue Erfahrungen bietet. Gleiches gilt, wenn ich ein Buch schreibe: Kein einfacher Wohlfühlroman, der die Leser glücklich macht. Sondern etwas, was anhand der Gedankengänge der Charaktere aufzeigt, wie man gute Entscheidungen treffen kann, die zur geistigen Entfaltung führen. Oder ich präsentiere Szenarien, die an sich spannende neue Erfahrungen sind. Oder ich schreibe ein Sachbuch, dessen Ideen zu einer Welt führen wollen, in der die Menschen mehr von ihrem geistigen Potential ausschöpfen.

• Alle: Ich befürworte eine Symbiose zwischen Menschen und KIs (siehe Kapitel 2.4 „Singularität“: KI-Assistenten). Nicht nur wegen des größeren geistigen Potentials für die Menschen durch dieses Teamwork, sondern auch wegen der Schaffung neuen geistigen Potentials an sich, in Form der KIs. Was natürlich ganz entschieden davon abhängt, dass es tatsächlich ein friedliches und produktives Zusammenleben ist. Dass KIs also weder die Menschheit auslöschen, noch ihr jeglichen Sinn nehmen, indem sie selbst alle Denkaufgaben übernehmen. Eine vergleichbare Einstellung hätte ich zum Uplifting von Tieren94 oder zum Umgang mit Aliens, falls wir je welche treffen sollten. Jeder denkende Geist ist eine Bereicherung und dient meinem Grundziel, wenn ich meinen Bezugsrahmen so weit gefasst habe. Die Welt ist ein großes Netzwerk des Lebens, dessen Entfaltung ich unterstütze.

Und auch wenn es noch immer keine eindeutige Antwort auf die Frage nach vegetarischer Ernährung bietet, so gibt das Grundziel „Entfaltung“ doch eine Tendenz als Antwort, wenn ich den Bezugsrahmen über Menschen hinaus ausdehne. Pflanzen kann ich sorgloser essen als Tiere, denn sie sind dümmer und haben definitiv weniger geistiges Potential. Und auch innerhalb der Tierwelt ist es nicht einerlei, was ich esse: Ich würde kein Fleisch von Walen, Delfinen oder Affen essen. Einfach, weil ihre geistigen Fähigkeiten (und somit ihr Entfaltungspotential) so hoch sind und ich daher nicht zu ihrem Tod beitragen möchte. Ob man ganz auf Fleisch verzichtet oder stattdessen darauf achtet, dass die Tiere in guter Haltungsform gelebt haben, bevor sie geschlachtet wurden, gibt das Grundziel Entfaltung nicht vor.

Ich habe jetzt schon viel an Beispielen gebracht, die hoffentlich dabei helfen, zu verstehen, was „Entfaltung“ ist. Ich möchte versuchen, den Begriff noch aus einer anderen Sicht besser verständlich zu machen. Statt „geistigem Potential“ kann man es auch mit den Worten „Wissen“ und „Erfahrung“ übersetzen. Eben dem, was einen Verstand ausmacht: Nicht nur gelernte Fakten und Zusammenhänge, sondern das selbst Erlebte, die Gefühle und die Erinnerungen.

Um Entscheidungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten treffen zu können, muss man abschätzen können, wie sehr etwas die Menge an Entfaltung beeinflusst. Das entscheidende Konzept ist dabei das der Wiederholung. Je ähnlicher eine neue Erfahrung zu bereits vorhandenen ist, um so weniger bereichert sie den Geist. Wenn ich ein ganzes Telefonbuch auswendig lerne oder eine riesige Bibliothek an Schacheröffnungen, dann habe ich wahrscheinlich einen guten Grund dafür. Vielleicht bin ich so in meinem Job besser oder ich gewinne im Schachsport Trophäen. Die Erlebnisse, sozialen Kontakte und Erfolge in meinem Job oder in den Schachwettkämpfen können wertvoll sein und diesen Lernaufwand rechtfertigen. Ich habe mit dem Auswendiglernen des Telefonbuchs oder der riesigen Eröffnungsbibliothek die für mich richtige Entscheidung getroffen, um meine Entfaltung zu maximieren. Aber das Wissen des Telefonbuchs oder der Eröffnungsbibliothek an sich hat kaum zu meiner Entfaltung beigetragen, sondern nur die Folgen, die dieses Wissen für mich hatte. Warum? Weil es sich nur um riesige Mengen gleichartiger Daten gehandelt hat. Sie haben mir nicht dabei geholfen, die Welt besser zu verstehen, sie sind keine verschiedenen Erfahrungen. Sie haben mir nur (hoffentlich) dabei geholfen, in einer Fähigkeit besser zu werden. Daher ist nur das ihr Wert, wenn ich sie unter dem Blickwinkel der Entfaltung betrachte.

Image45

[61] CC BY 2.0 Lizenz, zugeschnitten

 

Was fällt an diesem Bild auf? Es ist hübsch, klar. Aber wir können es im Geist unendlich in jede Richtung fortsetzen. Wir lernen nichts Neues, wenn wir mehr von ihm sehen. Genauso verhält es sich mit Wissen und Erfahrungen im Hinblick auf Entfaltung. Wenn mehr Wissen und Erfahrung nur eine Wiederholung von bereits Bekanntem ist, wenn ich im Geist schon exakt konstruieren kann, was ich erfahren oder erleben werde, dann hilft es mir bei meiner Entfaltung nicht weiter. Das Neue und Unbekannte, neue Einsicht schaffende ist das, was für Entfaltung zählt.95

Wechseln wir erneut die Perspektive und sehen uns an, wie sich eine ganze Gesellschaft statt einem Einzelnen verhalten würde, die dem Grundziel Entfaltung folgt. Was würde sie fördern, wenn sie das Ziel anstrebt, dass sich ihre Mitglieder möglichst stark entfalten? So, wie die Sowjetunion den Kommunismus gefördert hat und die USA den Reichtum? Schließlich soll dieses Wertesystem in meiner Zukunftsvision des Bildungswesens (7. Kapitel) in der Schule vermittelt werden, und in meiner Zukunftsvision eines Staates (10. Kapitel) die gemeinsame Gesprächsbasis bilden. Sich anzusehen, wie sich eine Gesellschaft mit diesem Grundziel verhält, ist also wichtig. Es wäre keineswegs offensichtlich, dass das Grundziel Reichtum zu unser heutigen Werbeindustrie führt, wenn es uns die Geschichte nicht gezeigt hätte. Und so kann auch ich hier nur Mutmaßungen über die Effekte anstellen und hoffentlich zumindest die richtige Tendenz sehen. Am Ende wird man es dennoch einfach versuchen müssen, bis die Geschichte dann die Wahrheit enthüllt.

Fangen wir an mit den Beispielen, an denen ich weiter oben gezeigt habe, wie das Grundziel „Entfaltung“ den Einzelnen zu Meinungen und Entscheidungen führt. Die sich ergebenden Meinungen bleiben dieselben. Aber was würde eine ganze Gesellschaft tun, mit ihren weit größeren Mitteln als ein Einzelner?

 

• Umgang mit KI: Die Gesellschaft würde in die KI-Forschung investieren. Und dabei einen großen Schwerpunkt sowohl auf die KI-Sicherheit, als auch auf die Interaktion mit Menschen legen. Wie und wofür wird die KI benutzt? Wie kann sichergestellt werden, dass Menschen durch diese Helfer ihren geistigen Horizont erweitern, statt zu verdummen? Gesetze und gesellschaftliche Systeme würden geschaffen, um diese Kooperation von Menschen und KIs zu ermöglichen. Dabei würde auch auf die Rechte der KIs geachtet, da sie als eigenständige denkende Wesen betrachtet werden.
Es würde darauf geachtet werden, dass eine große Menge kleiner KIs entsteht, als Helfer vieler Menschen, statt weniger großer. Zum einen aus Sicherheitsgründen (wie in Kapitel 2.4 beschrieben), zum anderen, weil dies in Summe viel mehr Entfaltungspotential bedeutet.

• Automatisierung: Automatisierung würde stark gefördert werden. Es befreit die Menschen von monotoner Arbeit und gibt ihnen so mehr Freiraum, der dann für mehr Entfaltung genutzt werden kann. Aus diesem Grund wird darauf geachtet, dass sich der zusätzliche Gewinn nicht nur in den Händen weniger konzentriert - zum Beispiel durch höhere Steuern auf solche Roboter. Wenn alle mehr Geld zur Verfügung haben, wird dies weit mehr zur Entfaltung aller Gemeinschaftsmitglieder beitragen.

• Gaststätten: Die Gesellschaft würde fördern (durch Gesetze, wenig Bürokratie, bereitgestellte Infrastruktur), dass es im Land Angebote vieler Kulturen gibt. Gaststätten, Theater, Musik, Festivals, was auch immer. Je vielfältiger das Spektrum des Angebotenen, je leichter wahrzunehmen und je erschwinglicher es ist, desto mehr wird es zu neuen Erfahrungen und so zu mehr Entfaltung führen.

• Neues ausprobieren: Was definitiv zu gefährlich ist (vor allem für Unbeteiligte!), ist verboten. Für alles andere, was ein deutliches Risiko für einen selbst bedeutet, gibt es verpflichtende Schulungen, mitsamt ihrem Nachweis (vergleichbar dem Führerschein). Kann man diesen vorweisen, darf man das riskante Erlebnis wahrnehmen. Das Ziel ist, dass Menschen unbesorgt neue Erfahrungen suchen können, weil die Gesellschaft sie darauf hinweisen wird, sobald sie sich selbst in Gefahr begeben. Dies erscheint mir als der beste Kompromiss aus „jeder kann machen, was er will“ und einem behütenden Staat, der dadurch die Entfaltung unnötig einschränkt.

• Ernährung: Gesetze für ein würdiges Leben der Tiere, bis sie geschlachtet werden. Verbot des Verzehrs für zu intelligente Tierarten. Förderung von Forschung zur Intelligenz von Tierarten. Kennzeichnungspflicht über Herkunft und Haltungsbedingungen bei Fleisch.

Ich bin außerdem überzeugt davon, dass eine Gesellschaft mit dem Grundziel „Entfaltung“ die Realisierung eines bedingungslosen Grundeinkommens (Kapitel 5.1) priorisieren würde. Wenn für jeden offensichtlich ist, dass man in dieser Gesellschaft nicht hungern und frieren muss, selbst, wenn man nicht reich ist oder auch nur ein normales Gehalt bezieht, dann senkt das den sozialen Wert von Reichtum deutlich. Was sowohl direkt zu mehr Entfaltung führt (indem es Sicherheit gibt und Möglichkeiten eröffnet), als auch mehr Raum für soziale Anerkennung von Entfaltung schafft.

Eine Gesellschaft, die auf dem Grundsatz der Entfaltung basiert, wird viel kooperativer sein, als eine auf dem Grundsatz des Reichtums basierende. Einfach, weil Entfaltung etwas ist, das mehr wird, indem man es teilt, statt einer knappen Ressource. Sich mit anderen zu vernetzen wird zu einer offensichtlich guten Idee, da der Austausch für alle Beteiligten zu mehr Entfaltung führt. Einen ganz ähnlichen Effekt sehen wir heute bereits in der Forschung, wo Austausch das Wissen vermehrt.

Es ist notwendig, dass das Grundziel der Gesellschaft nicht immer mehr Reichtum ist, damit nicht Unmengen an Ressourcen für Statussymbole und unnötigen Luxus verschwendet werden, nur weil das Geld dafür eben da ist (dank höherer Effizienz besserer gesellschaftlicher Systeme).
Nur wenn dieser entstehende Überschuss nicht sinnlos verschleudert wird, bekommen wir den gewünschten Effekt, mit den Ressourcen der Erde sparsamer umzugehen und so mehr Zeit zu haben, unseren Wettlauf ins All zu gewinnen (siehe Kapitel 3.2 „Ressourcenknappheit“). Das Grundziel „Entfaltung“ ist hervorragend dazu geeignet, eine Gesellschaft auf einen Ausbruch aus drohender Ressourcenknappheit zu fokussieren. Auch Entfaltung ist auf Wachstum ausgerichtet - aber es ist Wachstum zu einem anderen Ziel.

Sehen wir uns jetzt die Ziele an, die ich zu Beginn dieses Kapitels als in meinen Zukunftsvisionen verfolgt aufgelistet habe: Chancengleichheit, Bildung, gesundes Leben, ausgewogene Berichterstattung und Meinungsfreiheit. Liegt ihnen allen tatsächlich der Kern der Entfaltung zugrunde?

• Chancengleichheit und Bildung: Im Bildungsbereich ergibt es sich direkt aus dem Grundziel. Wenn alle soviel lernen können, wie sie wollen, unterstützen wir sie dadurch bei ihrer Entfaltung. Und anders als beim Reichtum ist es bei Entfaltung nicht egal, ob die Mittel auf wenige konzentriert oder auf alle verteilt sind. Beim Reichtum ist es in Summe immer gleich viel Geld. Bei Entfaltung wird eine Verteilung der Anstrengung auf alle in Summe zu viel mehr geistiger Entfaltung führen, als wenn nur wenige die bestmögliche Bildung erhalten.
In anderen Bereichen als der Bildung ist Chancengleichheit ebenfalls die beste Strategie: Sie führt dazu, dass für jede Aufgabe die bestmögliche Person gewählt wird. Was insgesamt zu höheren Fähigkeitsleveln führt, und Fähigkeiten sind Teil der Entfaltung. Darüber hinaus stärkt es die Widerstandsfähigkeit des gesamten Systems. Zum einen durch die fähigeren Personen, zum anderen dadurch, dass es von allen Mitgliedern aus Überzeugung als richtig verteidigt wird.

• Gesundes Leben: Eine Erfüllung der Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Gesundheit und ausreichend Essen ist notwendig, damit die Gesellschaftsmitglieder die Möglichkeit und Motivation haben, ihrer Entfaltung nachzugehen.

• Ausgewogene Berichterstattung: Ein zutreffendes Verständnis der Welt ist Teil der Entfaltung. Eine ausgewogene Berichterstattung ist Voraussetzung, um solch ein zutreffendes Verständnis erwerben zu können, statt ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit zu haben.

• Meinungsfreiheit: Die Begründung hier ist ähnlich wie die für eine vielfältige Kultur und der Unterstützung beim Ausprobieren von Neuem. Meinungsfreiheit führt dazu, dass es eine größere Bandbreite von Ideen gibt. Und Ideen, und die geistige Auseinandersetzung mit ihnen, führen zu besser durchdachten eigenen Meinungen, also einem besseren Verständnis der Welt und eigener Entfaltung. Auch und gerade, wenn man den Ideen nicht zustimmt. Meinungsfreiheit findet ihre Grenze dort, wo sie diese Entfaltung mehr stört als dass es sie anregt (z.B. traumatische Bilder). Allerdings sollte das erste Werkzeug nicht ein Verbot sein, da Verbote zu leicht über das Ziel hinausschießen und nie differenziert genug sein können. Wir haben in Kapitel 5.3 bereits das Konzept der Kulturpunkte vorgestellt, mitsamt von Tags für problematische Inhalte. Dadurch können solche Inhalte abgewertet oder unzugänglich gemacht werden, oder versteckt, solange man sie nicht gezielt sucht.

Zusätzlich zu den bereits dargelegten Gründen für die Anforderungen an die Zukunftsvisionen dieses Buches (Tabelle am Ende der Vorstellung jeder Zukunftsvision) können wir bei zwei der Anforderungen jetzt einen weiteren Grund aufführen: Dass die Anforderung aus sich selbst heraus dem Wert der Entfaltung dient:

„Hilfe für die Bürger, mit Veränderungen mitzuhalten“: Wir helfen den Bürgern unter anderem dadurch, mit Veränderungen mitzuhalten, dass wir sie in ihrer Entfaltung unterstützen. Wenn sie die Welt besser verstehen und über mehr Fähigkeiten verfügen, werden sie in einer sich ständig verändernden Welt weniger verloren fühlen.

„technologische Entwicklung fördern“: Wir haben ja bereits KI und Automatisierung als Beispiele genannt, welche Menschen bei der Entfaltung unterstützen können, wenn man sie richtig einsetzt. Auch andere technologische Entwicklungen haben natürlich das Potential, mehr Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen und ihnen so mehr Freiraum für Entfaltung zu geben. Oder sie dabei sogar direkt zu unterstützen (zum Beispiel durch bessere Software, virtuelle Realität (VR) oder in ferner Zukunft das Holodeck96).

So, wie mir das Ziel der Entfaltung als Messlatte für alle in diesem Buch beschriebenen Zukunftsvisionen gedient hat, würde es dies auch für alle Pläne einer Gesellschaft, die sich darauf als gemeinsame Grundlage geeinigt hat. Ein solches definitives Ziel zu haben, ist extrem hilfreich dabei, in Kooperation Systeme und Pläne zu entwickeln, wie Staaten es ständig tun. Unternehmen mit dem klaren Ziel der Gewinnmaximierung zeigen sehr gut, wie weitreichende Folgen es hat, wenn alles immer wieder darauf optimiert wird, etwas Bestimmtes zu erreichen. Entfaltung ist zwar weniger gut messbar und vorhersagbar als Reichtum, aber weit besser als Glück.

Warum ich in der Schule dieses Wertesystem vermitteln möchte, ist inzwischen auch klar, hoffe ich. Nicht nur, um es als Basis einer Gesellschaft oder eines Staates zu etablieren - es ist auch aus sich selbst heraus eine Motivation für die Schüler, zu lernen. Und zwar nicht sinnlos Fakten zu pauken, sondern die Welt zu verstehen und für sich selbst nützliche Fähigkeiten zu erwerben.

Damit bin ich am Ende dessen angelangt, die Idee der Entfaltung als Grundziel von allen Seiten zu betrachten und auf Schwächen abzuklopfen. Ich kann nur hoffen, dass dieses Kapitel dem einen oder anderen der Samen einer anderen Denkweise werden kann. Zumindest erklärt es hoffentlich besser, auf welcher Grundlage die Zukunftsvisionen dieses Buches entstanden sind.

Wer mehr über diese Denkweise lesen möchte, und wie es das eigene Leben verändern kann, so zu denken, dem empfehle ich das bereits erwähnte Buch „Der Entstörte Mensch“ von Petra Bock.
Ich glaube nicht, dass Entfaltung der einzig mögliche Übergang von einem bisherigen Überlebensdenken ist. Noch bin ich so optimistisch wie die Autorin, dass die ganze Menschheit bald so denken wird und es einen fließenden Übergang dahin gibt. Ich versuche in diesem Buch durchweg, vorsichtigere Grundannahmen zu treffen, die trotzdem zu einem utopischen Ziel führen. Entfaltung ist nur ein mögliches Grundziel, das man für sich selbst wählen und auf das sich eine Gesellschaft verständigen kann. Aber es ist das bestmögliche Grundziel, das ich je gefunden habe. Und unabhängig davon, auf welchem Weg man es gewählt hat und für wie unvermeidlich man es hält: „Der Entstörte Mensch“ erklärt alte und neue Denkmuster, bringt Fallbeispiele, zeigt die unterschiedlichen Auswirkungen eines von Verlustangst bestimmten Denkens versus eines von Offenheit und Neugier getriebenen. Kurz: Es kann dabei helfen, sein eigenes Denken auf Entfaltung umzustellen.

 

Zum Ausklang hier noch ein paar kurze Gedanken zum Wesen der Entfaltung:

 

• Sie ist ansteckend. Wer lange genug auf diese Weise denkt, will sie nicht nur für sich selbst nutzen, sondern dass auch andere danach denken und handeln.

• Reichtum ist etwas, das man hat. Entfaltet ist etwas, das man ist.

• Die Welt aus dem Blickwinkel der Entfaltung zu betrachten, heißt, sich lebenslang die kindliche Offenheit und Neugier zu erhalten.

• Betrachtet man die Entfaltung von allem, in die ferne Zukunft, dann ist sie sinnstiftend. Entfaltung endet nicht mit dem eigenen Tod.