5. Wirtschaft
5.3 Kulturpunkte
Im 1. Kapitel hatten wir festgestellt, dass die Medien (in Form von Nachrichten, Erzählungen und Social Media) dazu führen, dass wir einen zu düsteren Blick auf die Zukunft haben.16
Da dies so viele Probleme nach sich zieht, ist es ein guter Kandidat für eine Zukunftsvision. Wie also könnte man es anders machen?
Das Grundproblem von Nachrichten und von Social Media ist das Anreizsystem: die Aufmerksamkeitsökonomie. Wir werden die Menschen nicht davon abhalten können, auf reißerische Schlagzeilen zu klicken. Das Internet zu zensieren kann dieses Problem nicht lösen, und es würde dem Zensor viel zu viel Macht geben.
Die Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert so, dass jeder Aufruf einer Webseite Werbeeinnahmen generiert. Bei Radio und Fernsehen zählen nur die Zuhörer-/Zuschauerzahlen, da dies mehr Konsumenten für die Werbung bedeutet. Und die Werbung sorgt für den Großteil der Einnahmen. Es gilt also Aufmerksamkeit = Einnahmen.
Ich bin sicherlich nicht der Erste, der feststellt, dass die Werbung der Punkt ist, an dem sich hier etwas ändern müsste.
Es gibt ja auch bereits genug Versuche, Menschen für Nachrichten bezahlen zu lassen, so wie es früher beim Kauf von Zeitungen der Fall war (so dass der Großteil der Einnahmen eben nicht mehr aus der Werbung stammt, sondern von der Zufriedenheit der Leser). Viele Nachrichtenwebseiten haben einen Teil ihrer Artikel daher hinter Bezahlschranken versteckt. Es sind aber nur wenige Menschen gewillt, für so etwas zu zahlen, wenn sie viele andere Nachrichten mit Werbung kostenlos lesen können.
Was nötig wäre, um dieses System zu durchbrechen, wäre eine Änderung dessen, wodurch Nachrichten finanziert werden.
Von welchen Beträgen sprechen wir hier? Google AdSense zahlt in der Größenordnung von 20€ je 1 000 Seitenaufrufe (2 Cent je Seitenaufruf).[25] Das ist nur die Größenordnung, der tatsächliche Betrag ist stark vom Thema abhängig - wer über Autoversicherungen schreibt, wird pro Seitenaufruf mehr Werbeeinnahmen bekommen...
Machen wir eine Überschlagsrechnung. In Deutschland wurden 2023 knapp 50 Milliarden Euro für Werbung ausgegeben[26], etwa die Hälfte davon für Onlinewerbung[27]. 25 Milliarden Euro an Werbeausgaben entsprechen etwa 40 Seitenaufrufen mit Werbung pro Tag und Nutzer.17 Klingt realistisch.
Rechnen wir diese geschätzten Ausgaben für Werbung im Internet in Deutschland um auf Ausgaben je Bürger (25 Milliarden durch 85 Millionen), so kommen wir auf 295€/Jahr oder etwa 25€ je Monat. Ok, das ist zumindest keine utopisch hohe Summe. Falls wir uns ein gutes System ausdenken können, um Werbung im Internet zu ersetzen, würde es zumindest am Geld nicht scheitern.
Nun gibt es ja bereits den Ansatz, Medien staatlich zu finanzieren. In Deutschland passiert dies in Form des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Diese Medien laufen in Konkurrenz zu den privat finanzierten und sollen eine unaufgeregtere, neutralere Alternative anbieten. Das ist besser als nichts, aber dieser Ansatz hat viele Probleme:
• Die werbefinanzierten Medien gibt es natürlich trotzdem. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen mit ihnen also um Aufmerksamkeit konkurrieren.
• Ob die Öffentlich-Rechtlichen tatsächlich neutral berichten, ist stets umstritten. Auch ihre Unabhängigkeit vom Staat und den gerade regierenden Parteien sicherzustellen ist immer problematisch.
• Es muss immer wieder neu entschieden werden, wie viel Geld sie vom Staat bekommen sollen. Und dann muss geprüft werden, ob sie es tatsächlich effektiv nutzen.
Ein gutes neues System würde nicht parallel zu den privaten Medien laufen, sondern das Anreizsystem Werbung durch ein staatlich finanziertes ersetzen.
Da wir nicht den Staat lenken lassen wollen, was genau finanziert wird und was nicht, müssen es die Bürger sein, die diese Entscheidungen treffen. Es darf aber nicht durch den bloßen Aufruf der Webseite passieren, sondern es muss eine aktive Entscheidung sein. Ein Upvote/Downvote (Zustimmungs-/Ablehnungs-) Mechanismus, wie er in vielen Kommentarsystemen bereits heute als Filter eingesetzt wird.
Nun wäre es sicherlich möglich, eine spezielle Infrastruktur für genau diese Ermittlung aufzubauen. Aber das Ergebnis wäre sehr intransparent und sehr unflexibel, weil exakt auf diese Anforderung zugeschnitten.
Ich habe eine Idee für eine allgemeinere Lösung, die dieses Problem mit behebt:
Wir verteilen via Grundeinkommen (BGE, Kapitel 5.1) ja bereits jeden Monat an jeden Bürger Geld (verrechnet mit der Einkommenssteuer). Lasst uns jedem Bürger zusätzlich digitales Geld in einer anderen Währung zukommen lassen! Mit festem Wechselkurs an den Euro (oder die jeweilige Landeswährung) gekoppelt, aber mit ganz anderen Nutzungseigenschaften. Nennen wir es für diesen Vorschlag Kulturpunkte. Jeder Kulturpunkt ist zu Beginn 1€ wert (aufgrund von Inflation kann der Staat den Eurowert eines Kulturpunktes in Zukunft erhöhen). Geben wir jedem Bürger pro Monat ein Budget von 100 Kulturpunkten. Kulturpunkte können nur über eine spezielle App ausgegeben, und sie können nicht angespart werden - was nicht genutzt wird, verfällt (wie gesagt, ganz andere Nutzungseigenschaften...). Realistischerweise wird vielleicht die Hälfte tatsächlich genutzt werden, was in Deutschland einem Jahresbudget von 50 Milliarden Euro entspricht, also so viel, wie die Werbeindustrie jährlich hier ausgibt.
Das klingt erst einmal wie eine enorm hohe Summe, die der Staat aufwenden muss. Wir werden aber sehen, dass andere staatliche Ausgaben im Gegenzug sinken können und auch zusätzliche Einnahmen generierbar werden. Es wird viel weniger Geld unnütz versickern als das bei Werbung der Fall ist – das Verhältnis von Geld zu gutem Inhalt im Netz wird weit besser werden. Außerdem wird die Wirkung von Kulturpunkten deutlich über Werbung im Internet hinausgehen (dafür investieren wir ja auch doppelt soviel wie die Werbeindustrie aktuell im Internet ausgibt). Trotz der hohen Summe bin ich daher sicher, dass es gut möglich ist, das Ganze zu finanzieren. Eine genauere Betrachtung der Kosten für das Beispiel Deutschland findet sich im Kapitel 13.3.
Kulturpunkte sollen nur dafür eingesetzt werden können, uns anonym für etwas zu bedanken. Ohne Anonymität würden - selbst wenn wir versuchen, das zu verbieten - sofort Wechselstuben für Kulturpunkte gegen Euro aufploppen, und Kulturpunkte wären nichts anderes als eine Aufstockung des Grundeinkommens.
Jeder Bürger bekommt ein staatliches Ausgangskonto und ein staatliches Eingangskonto für Kulturpunkte. Das Ausgangskonto wird jeden Monat wieder auf 100 Kulturpunkte aufgefüllt, egal wie viele noch darin waren. Jeder Bürger kann über die App von diesem Konto aus einen Kulturpunkt an das Eingangskonto eines anderen Bürgers schicken (kein anderer Betrag möglich). Diese Sendungen passieren aber nicht sofort: Sie werden über den ganzen Monat gesammelt und dann alle auf einmal ausgeführt, bevor das Ausgangskonto neu aufgefüllt wird. Ganz wichtig: Jeder kann seine eigenen Sendungen einsehen und bis zum Monatswechsel Einträge wieder streichen. Solche wieder gestrichenen Sendungen werden also nie ausgeführt!
Die App auf Computer oder Smartphone des Bürgers zeigt nur die Liste der Empfänger an, alphabetisch sortiert. Aber nicht, wann eine Sendung in die Liste eingestellt wurde, nicht einmal, ob dies bereits am Ende des vorhergehenden Monats geschah. Jeder Empfänger kann nur einmal als Ziel in der Liste stehen. Sendungen können als wiederkehrend markiert werden, dann werden sie nach der Ausführung in die Liste des nächsten Monats übernommen.
Diese Einschränkungen machen die Liste sehr übersichtlich: Der Bürger sieht auf seiner App nur, wie viele seiner Kulturpunkte bereits reserviert sind (Länge der Liste) und die Liste aller Empfänger. Betrag ist immer 1 Kulturpunkt, muss also nicht angegeben werden, und der Zeitpunkt wird auch nicht gespeichert.
Jeder Bürger bekommt automatisch ein Eingangskonto für Kulturpunkte. Zusätzlich werden auch juristische Körperschaften eins erhalten. Hier wird es aber aber recht hohe Hürden geben, so dass man nicht einfach Briefkastenfirmen gründen kann, um mehr Eingangskonten zu erhalten. Für wen diese Hürden zu hoch sind, der arbeitet einfach mit dem Eingangskonto, das er als Bürger automatisch erhalten hat. Das Eingangskonto läuft auf Euro, nicht auf Kulturpunkte. Eingehende Kulturpunkte wandeln sich also in Euro, zum festgelegten Wechselkurs.
Es gibt in der Werbeindustrie den Spruch, dass es keine negative Aufmerksamkeit gibt. Alles, was die Marke bekannt macht, ist gut. Bisher ist das auch bei den Kulturpunkten so. Wenn ich ein Aufsehen erregendes Verbrechen verübe und mich dadurch Millionen kennen, bekomme ich plötzlich tausende Kulturpunkte. Warum? Weil es von den Millionen bestimmt ein paar Tausend gibt, die gut finden, was ich gemacht habe, aus welchen Gründen auch immer. Oder die sich einfach einen Spaß erlauben. Kennen mich dagegen nur meine Freunde, bekomme ich vielleicht nur ein Dutzend Kulturpunkte im Monat.
Um dieses Ungleichgewicht zu beheben, führen wir eine zweite Liste im Ausgangskonto ein, für negative Kulturpunkte. Davon bekommt jeder Bürger im Monat 25, und jeder Eintrag in der Liste sendet einen halben negativen Kulturpunkt an den Empfänger. An den Werten (25 und 1/2) kann bei Bedarf gedreht werden, aber es ist wichtig, dass die negativen Kulturpunkte deutlich schwächer sind als die positiven.
Auf den Eingangskonten werden die eintreffenden negativen Kulturpunkte mit den positiven verrechnet. Die Untergrenze ist dabei 0. Bekomme ich in einem Monat mehr negative als positive Kulturpunkte, so erhalte ich kein Geld auf das Eingangskonto. Die Information, wie viele positive und negative Kulturpunkte ein Konto erhalten hat, ist öffentlich.
Negative Kulturpunkte können also dafür eingesetzt werden, um jemanden anonym abzustrafen. Dadurch, dass jede Sendung an negativen Kulturpunkten nur halb so viel Wert ist wie eine positive, sollte es in Kontroversen mit ähnlich vielen Befürwortern wie Gegnern nicht dazu führen, dass ein Eingangskonto leer bleibt. Ist die Zahl der Gegner aber weit höher, wie im oben genannten Beispiel eines Verbrechens, so bleibt das Eingangskonto leer. Damit brechen wir die Maxime, dass jede Aufmerksamkeit gute Aufmerksamkeit ist.
Innerhalb der letzten 48 Stunden vor Monatsende verhält sich die App anders als sonst. In diesem Zeitraum eingetragene positive Kulturpunkte werden ganz normal in der Liste angezeigt (ohne Unterscheidungsmöglichkeit), aber anstatt ausgeführt zu werden, werden sie zum Monatswechsel nur nicht gelöscht. Ihre Ausführung verzögert sich somit um einen Monat.18 Das Löschen von Einträgen, sowie das Eintragen oder Verschieben in die Negativliste, sind weiter normal möglich.19 Im neuen Monat lassen sich die in diesem Zeitraum des Vormonats gelöschte oder verschobene Listeneinträge per Knopfdruck wiederherstellen.
Mit diesem Verhalten maximieren wir die Anonymität der Kulturpunkte: Niemand weiß, von wem das Geld stammt, das auf seinem Eingangskonto für Kulturpunkte einmal im Monat auftaucht. Selbst wenn sich jemand die Handyapp vorzeigen lässt und sieht, dass er auf der Liste steht: Der Nutzer der App kann den Eintrag später wieder streichen. Es klappt nicht einmal zum Monatswechsel, weil Einträge der letzten beiden Tage genau gleich aussehen, aber zum Monatswechsel nicht ausgeführt werden.
Es ist den Aufwand nicht wert, zu versuchen zu betrügen: Das Potential liegt bei nur einem Euro pro Monat für jeden Nutzer, den ich dazu bekomme, mir den Kulturpunkt zu schicken. Wer betrügt, den kann der Staat neben einer Bußgeldzahlung auch damit bestrafen, dass er für eine gewisse Zeit aus dem System der Kulturpunkte fliegt – sie also weder senden noch empfangen kann.
Es ist viel, viel einfacher, Kulturpunkte auf die Weise zu bekommen, für die sie gedacht sind: Seinem Publikum etwas zu bieten, für das sie sich bedanken, indem sie den Künstler oder Schreiber in die Liste in ihrem Ausgangskonto aufnehmen. Ohne irgend einen Versuch, das kontrollieren zu wollen, einfach als anonymes Dankeschön.
Um die positiven Auswirkungen der Kulturpunkte zu verstärken, sollte es online mit einem Taggingsystem20 kombiniert werden. Das muss nicht staatlich vorgegeben sein, aber es sollte einen einheitlichen Standard geben. Webseiten sollen dadurch angeben, dass eine Webseite, ein Bereich innerhalb der Webseite oder das Ziel eines Links21 verstörenden, gewalttätigen, sexuellen, nicht für Kinder geeigneten oder anderweitig problematischen Inhalt darstellt. Oder einfach nur Spoiler enthält, wenn wir schon einmal dabei sind.
Browser werden solche Tags stets anzeigen, und die Nutzer werden einstellen können, dass Links mit bestimmten Tags nicht anklickbar sind, zuerst warnen, Inhalte schwärzen, was auch immer. Es ist die Wahl des jeweiligen Nutzers, wie sich der Browser verhält. Auf diese Tags können dann natürlich zum Beispiel Kindersicherungssysteme aufsetzen.22
Wenn der Standard eindeutig genug ist und bestimmte Tags fest definiert sind, kann der Staat im Extremfall sogar Strafen androhen, wenn Inhalte nicht richtig getaggt wurden. Der normalere Fall, und der Grund es an dieser Stelle vorzuschlagen, ist aber, dass Nutzer mithilfe von negativen Kulturpunkten Webseiten abstrafen können, die ihre Inhalte nicht richtig getaggt haben. Was dazu führt, dass das Taggingsystem benutzbar gut wird, mit all den Vorteilen, die das bringt.
Gleichzeitig haben wir mit dem Taggingsystem auch das letzte fehlende Element, um uns festlegen zu können, dass der Staat mit Kulturpunkten keinerlei Zensur betreiben darf. Dies sollte auch klar in dem Gesetz stehen, welches das Kulturpunktesystem definiert.
Natürlich: Was verboten ist, ist verboten, und führt zu Geldbußen oder Gefängnisstrafe. Und dazu kann auch fehlendes Taggen von Inhalten gehören.
Aber der Staat sollte keinerlei Einschränkungen festlegen können, wofür Kulturpunkte genutzt werden dürfen und wofür nicht. Er überwacht lediglich, dass niemand das System aushebelt, über das Hacken von Kulturpunktekonten oder über Deanonymisierung.
Dass er aber nicht mehr Tugendwächter spielen oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen alle politischen Ansichten neutral repräsentieren muss, ist gerade einer der großen Vorteile der Kulturpunkte. Im Vergleich dazu ist die Maßgabe „keine Beschränkungen“ eine viel klarere Linie und für die Bürger viel besser kontrollierbar. Was ein schleichendes auf-Linie-bringen der Medien unmöglich macht und den Staat dadurch widerstandsfähiger.
Wir sollten uns hier aber unbedingt noch eine andere mögliche Form der Zensur ansehen: Wie können wir verhindern, dass der Staat betrügt und Oppositionellen weniger Kulturpunkte auszahlt? Schließlich haben wir uns ja die größte Mühe gegeben, dass es eben nicht nachvollziehbar ist, von welchen Personen jemand einen Kulturpunkt bekommt!
Egal wie wahrscheinlich das ist: Schon dass wir nicht wissen, ob es passiert oder nicht, würde das Vertrauen in das gesamte System untergraben.
Dieser Widerspruch ist auflösbar, die Lösung wird aber etwas kompliziert. Wen die Details nicht interessieren, kann den folgenden Kasten problemlos überspringen.
Das wichtigste Mittel, die Integrität der Kulturpunkte sicherzustellen, ist die App auf den Smartphones der Bürger. Sie ist zwar nicht Open Source, aber ihr Quellcode kann einsehbar sein, und es kann garantiert werden, dass die ausführbare Anwendung aus genau diesem Quellcode erzeugt wurde.
Damit kann dann die Anwendung selbst die Kulturliste auf Korrektheit prüfen. Das funktioniert wie folgt:
48 Stunden vor Ende jeden Monats veröffentlicht der Staat eine Übersicht aller Empfänger aller Kulturpunktekonten („Gesamtliste“). Wenn das durchschnittliche Konto 100 Einträge hat und es 85 Millionen Konten gibt, dann hat diese Gesamtliste 8,5 Milliarden Einträge. Ist jeder Eintrag 6 Byte groß, dann sind das 51GB an Daten. Dritte werden diese Liste speichern, sobald sie veröffentlicht ist. Der Staat kann sie daher nachträglich nicht unbemerkt verändern.
Die Einträge dieser Gesamtliste sind scheinbar willkürlich zusammengewürfelt, die Listen einzelner Konten lassen sich aus ihr nicht rekonstruieren. Die letzten 2 Byte jedes Eintrags sind der Verweis auf das nächste Element der Liste eines Kontos (Offset vom aktuellen Gesamtlistenindex, Verweise hinter das Ende der Gesamtliste zählen wieder vom Anfang an). Allerdings verändert um eine spezifische Zahl, die für jedes Konto und jeden Monat anders ist. Die App selbst kennt sie (und zeigt sie an), und kann so verifizieren, ob jeder Eintrag auf den nächsten Eintrag der eigenen Liste verweist. Falls nicht, betrügt der Staat.
Egal um welche Zahl man diese Verweise verändert, man wird immer eine gültige Liste erhalten (wenn man nicht einen gedoppelten Empfänger erwischt). Somit kann niemand diese Verweise nutzen, um nachzuweisen, dass er bestimmte Empfänger in seiner Empfängerliste eingetragen hat.
Man kann in der App eintragen, gegen welche Quelle der Gesamtliste die eigene Liste (Stand 48 Stunden vor Monatsende) abgeglichen werden soll. Das kostet wenige MB Datenvolumen pro Monat, und in der App wird dann angezeigt, ob die Prüfung erfolgreich war. Da dafür die Verweise am Ende jedes Eintrages stimmen müssen, kann der Staat Einträge nicht mehrfach verwenden, um so unerwünschten Empfängern weniger Kulturpunkte zukommen zu lassen.
Damit haben wir sichergestellt, dass nichts fehlt. Um nachzuprüfen, dass keine Einträge dazugekommen sind (vor allem negative Kulturpunkte), braucht es ein verlässliches Bürgerverzeichnis, welches der Staat separat veröffentlicht. Zusätzlich muss veröffentlicht werden (via API/Gesamtliste/...), welche Bürger mindestens einen Kulturpunkt einsetzen und welche nicht.
Als Teil der Gesamtliste gibt es Einträge mit verschlüsselter Kontonummer, wie viele Empfänger jedes Konto hat. Die App kann ihren eigenen Eintrag der Empfängeranzahl prüfen. Somit kann der Staat keinen Eintrag weglassen, da das auffallen würde. Bei bekannter Gesamtzahl aktiver Konten kann er auch niemanden hinzuerfinden. Durch Abgleich der Summe aller Listenlängen mit dem Umfang der Gesamtliste ist dann sichergestellt, dass keine zusätzlichen Einträge vom Staat getätigt wurden.
Mithilfe der Gesamtliste, und der öffentlichen Information, welches Eingangskonto wie viele positive und negative Kulturpunkte erhalten hat, kann verglichen werden, ob beide Seiten zusammenpassen.
Kein Konto kann mehr positive Kulturpunkte erhalten als ausgerechnet, da in den letzten 48 Stunden hinzugekommene Einträge nicht überwiesen werden.
Negative Kulturpunkte können noch dazugekommen und Einträge aus der Positivliste wieder gelöscht worden sein. Aber im Vergleich zum Rest des Monats sollte dieser Anteil nicht groß sein. Gibt es hier für bestimmte Konten große Verluste, vor allem wiederholt, dann betrügt der Staat vermutlich.
Auch wenn dieses 48-Stunden Zeitfenster die Auswertung etwas schwieriger macht: Es ist wichtig genug, dass einzelne Überweisungen nicht nachgewiesen werden können, dass die Vorteile dieses Zeitversatzes überwiegen.
Bei Bedarf finden sich sicher weitere Informationen, die der Staat veröffentlichen kann, um die Integrität des Systems nachzuweisen, ohne die Anonymität der Kulturpunkte zu gefährden.
In Summe verhindern bereits die aufgelisteten Prüfmöglichkeiten, dass der Staat in größerem Umfang manipulieren kann. Je mehr er ändert, desto höher sein Risiko dabei ertappt zu werden.
Dieser Aufbau verhindert heimliche Zensur mithilfe der Kulturpunkte. Er ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Teile eines Systems kompliziert sein dürfen, welche Nutzer nicht verstehen müssen, um es zu benutzen.
Damit haben wir die Infrastruktur fertig skizziert. Sehen wir uns jetzt die Umsetzung aus Bürgersicht an.
Es gibt nur eine zentrale staatliche App für Smartphones und Computer für den Zugriff auf das eigene Kulturpunktekonto. Diese App kann aus dem Browser heraus (spezieller Link) aufgerufen werden, mit einem Vorschlag, welches Zielkonto in die Liste aufgenommen werden soll. Dies muss der Nutzer in der App dann nur noch bestätigen.
Vom Design dieser App hängt ab, wie Kulturpunkte genutzt werden und ob die Anonymität gewahrt bleibt. Würden wir mithilfe einer API beliebige Apps das Kulturpunktekonto steuern lassen, dann könnte eine solche App mit den Zugangsdaten des Nutzers auch problemlos ungenutzte Kulturpunkte an ein bestimmtes Konto schicken. Da der Staat das Kulturpunktesystem finanziert, gibt es keinen Grund, dieses Risiko einzugehen.
Dennoch sollte es eine API für andere Apps geben, mit dem Kulturpunktesystem zu interagieren. Einmal für den Abruf öffentlich verfügbarer Informationen, wie die Anzahl positiver und negativer Kulturpunkte, die ein bestimmtes Konto letzten Monat erhalten hat. Zum anderen kann jeder Bürger Software autorisieren, Vorschläge an sein eigenes Kulturpunktekonto zu schicken. Diese Vorschläge werden in der staatlichen App angezeigt, nach Quelle sortiert, mit Möglichkeiten, leicht Einträge in die Liste zu überweisender Kulturpunkte zu übernehmen.
Auf diese Weise können die Anwendungsgebiete weit über das hinausgehen, was die staatliche App unterstützt, ohne dabei Missbrauch zu ermöglichen.
Gehen wir ein Nutzungsbeispiel der Kulturpunkte durch.
Der Nutzer liest einen Nachrichtenartikel über das Schulwesen in Nigeria, den er gut findet. Am Ende des Artikels klickt er dann auf den „Like“ Button (grüner Daumen hoch). Dadurch öffnet sich die Kulturpunkteapp. Der Nutzer hatte sie noch nicht gestartet, daher entsperrt er sie mit dem Fingerabdrucksensor seines Handys. Die App zeigt den Namen des Nachrichtenportals als Empfänger des Kulturpunktes an (juristische Körperschaft).23 Außerdem zeigt sie an, wie viele Likes/Dislikes das Konto letzten Monat erhalten hat und wie viele Plätze auf der eigenen Liste noch frei sind. Sie bietet auch ein Eingabefeld für eine Textnotiz, in dem man eintragen kann, wofür man den Like/Dislike vergibt. Der Link schickt einen Textvorschlag für dieses Eingabefeld mit: „Artikel über das Schulwesen in Nigeria“. Der Nutzer bestätigt, und nimmt den Eintrag damit in seine Liste auf (=positiv/Like). Alternativ hätte er auch die Möglichkeit gehabt abzubrechen, oder den Eintrag stattdessen in die Liste der negativen Kulturpunkte aufzunehmen (=negativ/Dislike). Mit seiner Entscheidung wechselt der Nutzer automatisch zurück in den Browser zum Nachrichtenartikel. Die Webseite wird sicherlich tracken, wie viele Leser den Likebutton angeklickt haben. Aber ob der Eintrag tatsächlich in die positive Liste aufgenommen wurde, stattdessen Dislike gewählt wurde, oder der Eintrag vor Monatsende wieder gelöscht wird, das erfährt die Webseite nicht.
Was hier für Nachrichten funktioniert, geht natürlich genauso auf allen anderen Webseiten: Auf Facebook, YouTube, Soundcloud, für Indiespiele, was auch immer. Insbesondere kann man damit auch Webseiten im Internet unterstützen, die Dienstleistungen im Gegenzug für dieses anonyme Dankeschön anbieten, statt eigener kreativer Inhalte. Das macht es deutlich attraktiver als bisher, Webseiten zu designen, die vielen Menschen manchmal sehr nützlich sind, aber nicht oft genug, dass sie hohe Werbeeinnahmen generieren würden. Von Wikipedia über Übersetzer bis hin zu Linksammlungen und Rezensionsseiten. Sie bekommen ihr Geld nicht dafür, dass sie oft aufgerufen werden, sondern dafür, dass sie tatsächlich hilfreich sind. Genauso wie bei Nachrichten sollte das zu einer viel höheren Qualität führen. Oder wohltätige Organisationen: Ein Euro im Monat mag nicht viel sein, aber wenn viele Menschen ihn bei sich einstellen, weil es sie kein eigenes Geld kostet, kommt trotzdem einiges zusammen. So stimmen also alle Bürger zusammen ab, welche Hilfsorganisationen vom Staat in Form von Kulturpunktegeld unterstützt werden sollen.
Hat man jemanden, den man dauerhaft unterstützen möchte, so setzt man den entsprechenden Haken für den Listeneintrag. Damit wird jeden Monat ein Kulturpunkt geschickt, und der Eintrag bleibt in der Liste, bis man seine Meinung wieder ändert.
Statt über den Browser können die speziellen Links für die Kulturpunkteapp auch anhand eines QR-Codes aufgerufen werden. Wenn man draußen unterwegs ist und Straßenmusik hört, die einem gefällt, dann steht da ein Schildchen mit einem QR-Code. Mit der Kamera des Handys einscannen, und in der dadurch gestarteten Kulturpunkteapp entscheiden, ob der Eintrag in die Like- oder Dislikeliste aufgenommen werden soll. Wieder mit Angaben zum Kontoinhaber, Likes/Dislikes im Vormonat (falls man online ist), Textnotiz und der Anzahl noch freier Plätze in der eigenen Liste. Dieses ganze System der Kulturpunkte ist also nicht nur für Webseiten gut, sondern funktioniert ganz wunderbar auch für Offlinekultur.
Genauso, wie man mit Kulturpunkten Webseiten unterstützen kann, die Dienstleistungen anbieten, geht natürlich auch das offline: Wenn jemand einer großen Gruppe an Menschen (auf einem Jahrmarkt, einer Demo, ...) eine Dienstleistung anbietet, die ihn selbst sehr wenig kostet, kann jetzt die beste Entscheidung sein, kein Geld dafür zu verlangen, sondern darauf zu vertrauen, dass sich genug Menschen per Kulturpunkt dafür bedanken. Ein Geschäftsmodell, dass es so bisher nicht gab!
Das ist außerdem etwas, bei dem es einen fließenden Übergang vom kommerziellen zum normalen sozialen Umgang gibt, indem man sich so verhält, dass man von anderen als hilfreich wahrgenommen wird. Aus diesem Grund wird es in der App auch die Möglichkeit geben, ein Zielkonto anhand des Namens des Kontoinhabers zu suchen. Das ist praktisch, wenn man jemanden liken/disliken möchte, ohne einen entsprechenden Link zu haben (weil es eben beispielsweise eine normale soziale Interaktion war).24
Falls auch die Zukunftsvision eines BGE umgesetzt wurde, gibt es übrigens keinerlei Anlass, einen Bettler mit Kulturpunkten zu unterstützen: Wer ein Kulturpunktekonto hat, ist als Bürger des Staates registriert und erhält folglich auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Der einzige Grund, der mir einfällt, warum jemand trotz BGE noch bettelt, wäre Drogenabhängigkeit. Demjenigen ist mit mehr Geld aber nicht geholfen.
In Radio und Fernsehen kann zwar kein Link angeklickt werden, aber im Radio kann angesagt werden, welches Zielkonto man suchen soll, um dem Sender einen Kulturpunkt zukommen zu lassen, und das Fernsehen kann einen QR-Code einblenden.
Übrigens sind Fernseher und smarte Lautsprecher heutzutage auch in der Lage, ihre Inhalte aus dem Internet zu beziehen. Sobald die Inhalte zum großen Teil via Webbrowser konsumiert werden, das Abspielen via Fernseher oder Lautsprecher also nur die Zweitverwertung darstellt, kann der Großteil der Zuschauer und Zuhörer wieder einfach auf einen Link klicken, um den Sender zu unterstützen.
Kulturpunkte können öffentlich-rechtliche Sender also großteils ersetzen (wobei ein staatlicher Kulturkanal für Radio und Fernsehen, mit Nachrichtensendungen, eine erhaltenswerte Tradition ist).
Wie robust ist dieses Kulturpunktesystem gegen Missbrauch? In den letzten beiden Tagen vor jedem Monatswechsel sollte man sich ein paar Minuten Zeit nehmen, um die Listen noch einmal durchzugehen. Hat man seine Meinung irgendwo noch einmal geändert? Likes können jederzeit zu Dislikes umgewandelt werden und umgekehrt. Einfach löschen geht natürlich auch. Sieht vielleicht irgend etwas komisch aus? Die 48-Stunden-Regel dient auch als zusätzlicher Hackerschutz: Falls jemand ein Konto gehackt haben sollte, muss der Hacker Einträge mehr als 48 Stunden vor Monatsende einstellen, sonst werden sie erst zum Ende des Folgemonats ausgeführt.
Natürlich wird man in der eigenen Liste auch Freunde und Familienmitglieder eintragen, ohne dass die dafür Kultur geschaffen oder eine Dienstleistung erbracht haben. Das ist aber nichts Negatives, sondern ein positiver Effekt: Zum einen motiviert es dazu, sich die Mühe zu machen, die App einzurichten. Wer will sich schon schuldig fühlen, dass er seinen Freunden und Angehörigen nicht jeden Monat den Euro zukommen lässt, der einen selber absolut nichts kostet? Und wenn man die App dann einmal eingerichtet hat, dann kann man ja auch mal einen Likebutton im Netz klicken, wenn man etwas gut fand, die Einrichtungsarbeit ist ja eh schon erledigt. Auch deswegen ist die Zahl der Kulturpunkte so hoch gewählt: Die meisten werden in Summe vielleicht 20 Freunde und Familienmitglieder haben, die sie auflisten wollen. Was den Rest der Liste frei lässt für echte Kulturschaffende, Nachrichtenschreiber, Dienstleistungswebseiten und Hilfsorganisationen.25
Die Einführung dieses Systems umfasst natürlich auch eine Erklärung für die Bürger, was das ist, wie es funktioniert und wie es benutzt werden sollte. Kinder werden den Umgang damit in der Schule lernen.
Folgendes wird in beiden Fällen vermittelt werden:
• Wenn ihr etwas informativ, lustig, schön, nachdenklich, kreativ, unterstützenswert gefunden habt, und wenn es euch in einem werbefreien Umfeld präsentiert wurde, dann schickt den Like (in Form eines Kulturpunktes).
• Wenn ihr Werbung drumherum seht: Schickt den Like nicht, der Künstler oder Schreiber holt sich bereits Geld für Aufmerksamkeit, statt für Qualität.
• Falls die Nachricht manipulativ ist, der Titel reißerisch und irreführend war, oder ihr von etwas abgestoßen seid, dann schickt einen Dislike (in Form eines negativen Kulturpunktes).
• Wenn ihr entscheiden müsst, wem ihr das Geld zukommen lasst, weil eure Kulturpunkte ausgeschöpft sind, seht euch an, wie viele der Empfänger bekommt. Ein YouTube Kanal, der hunderttausende pro Monat bekommt, braucht euren Punkt bestimmt weniger als ein Nischenkünstler, der nur wenige hundert Kulturpunkte erhält.
Im Gegensatz zur Vision eines BGEs hängt der Erfolg des Kulturpunktesystems stark davon ab, dass es von der Bevölkerung angenommen und verstanden wird. Mit Kulturpunkten kann gutes Verhalten belohnt und schlechtes Verhalten gerügt werden. Je einiger sich die Bevölkerung darin ist, was gutes Verhalten ist (z.B. fundierte Artikel), was schlechtes Verhalten ist (z.B. Werbung und Fake News), und umso klarer den Menschen ist, dass die Stimme, die sie so abgeben, wirklich zählt, umso stärker wird der positive Effekt der Kulturpunkte sein. Das bedeutet auch, dass der Effekt langfristig stark von einem guten Bildungssystem profitiert (über das wir im 7. Kapitel sprechen werden).
Auch mit diesem System werden wir Werbung nicht vollständig aus dem Internet verbannen können, auch nicht von deutschsprachigen Webseiten. Aber mit einer guten Erklärung, wie Likes und Dislikes einzusetzen sind, können wir einen sehr starken Anreiz für viele Webseiten schaffen, auf Werbung zu verzichten. Weil Werbung zu viel weniger Likes führt. Mittelfristig macht das Werbung auf Webseiten suspekt, und sie wird von den Bürgern als starker negativer Indikator für die Qualität der Webseite wahrgenommen. Was wiederum den Einsatz von Werbung senkt und die Indikatorwirkung verstärkt. Irgendwann hätten Webseiten, die Werbung einsetzen, dann ein Schmuddelimage wie heute Seiten, die Sexwerbung in neuen Browserfenstern öffnen.
Alternativ dazu besteht natürlich weiterhin die Möglichkeit, einen Werbeblocker im Browser einzusetzen. Dieser Einsatz ist stets legal. Falls alle Besucher Werbeblocker einsetzen, bekommt der Betreiber der Webseite keine Werbeeinnahmen. Der Effekt wäre dann der gleiche, als hätte die Webseite keine Werbung. Im ersten Schritt würde es für Webseiten eine Werbeblockererkennung kontraproduktiv machen: Damit würden Besucher davon abgehalten werden, den Likebutton klicken zu können.
Auch die Kombination beider Varianten ist ok: Wenn ein Teil der Besucher einen Werbeblocker benutzt und den Likebutton klickt (weil sie die Werbung nicht sehen), während der Rest den Likebutton wegen der Werbung nicht klickt, dann ist die Werbung eine Kombination aus unnütz und schädlich und wird mit der Zeit immer weniger eingesetzt werden.
Wie sieht das Ganze aus der Sicht der Unternehmen aus? Sie finden jetzt ja immer weniger Möglichkeiten, preisgünstig Werbung zu platzieren.
Zum einen werden die noch bestehenden Möglichkeiten besser bezahlt werden: der Preis, um Werbung auf einer Litfaßsäule zu platzieren zum Beispiel, oder Kinowerbung. Das sollte am Ende dazu führen, dass die jeweiligen durch Werbung mitfinanzierten Dienstleistungen günstiger oder besser werden. Falls die Litfaßsäulen vom Staat betrieben werden, erhöht es einfach die staatlichen Einnahmen.
Zum größeren Teil wird aber einfach weniger für Werbung ausgegeben werden, da sie für das gleiche Geld viel weniger Nutzen bringt. Da auf dem Markt weiterhin Konkurrenz besteht, würde sich der Wettbewerb notwendigerweise stärker auf Preis und Produktqualität verlagern. Eine sehr positive Auswirkung!
Nehmen wir jetzt als Beispiel ein konkretes Medienunternehmen. Sind die Zahlen realistisch, und könnte es von Kulturpunkteinnahmen leben?
Spiegel Online hatte 2019 55 Millionen Euro Online-Werbeumsätze. Dazu kommen ca. 250 000 Spiegel+ Leser, die je 20€/Monat zahlen, also insgesamt ca. 60 Millionen Euro an Aboeinnahmen pro Jahr.
Laut eigener Aussage hat die Spiegel Gruppe insgesamt eine Reichweite von 16 Millionen Lesern, während die Zugriffsstatistik auf Spiegel Online sogar ca. 25 Millionen Nutzer anzeigt.
Bisher nimmt Spiegel Online pro Jahr also ca. 115 Millionen Euro ein (Umsatz Werbung+Abos). Um den gleichen Umsatz über Likes zu erzielen, müssten 9,6 Millionen Leser den Spiegel auf der Liste ihrer Likes (Kulturpunkteempfänger) haben. Das klingt wie ein erreichbares Ziel.
Die Umstellung von Werbung+Abos auf Kulturpunkte hätte zwei große Vorteile:
• Niemand müsste auf der Webseite mehr Werbung sehen.
• Alle könnten alle Artikel lesen, anstatt dass ein Großteil der Artikel nur für ein paar hunderttausend Abonnenten zugänglich ist.
Patreon (https://www.patreon.com) ist bereits heute ein System, das in etwa auf dem Prinzip der Kulturpunkte beruht: Künstler, die man gut findet, unterstützt man mit kleinen monatlichen Beträgen. Die Künstler können so davon leben. Sie stellen den Großteil ihrer Werke kostenlos bereit, um möglichst viele Fans zu gewinnen (und wer den Künstler via Patreon unterstützt, erhält ein paar Boni, wie früheren Zugriff auf neue Werke). Dieses Prinzip ist enorm erfolgreich und hat bereits heute die Qualität frei verfügbarer Werke im Internet stark gesteigert.
Der Effekt der Kulturpunkte wäre derselbe. Sie würden für viele Menschen die Einkommensbasis bedeuten. Nur dass hier natürlich insgesamt viel höhere Geldbeträge verteilt werden, was eine entsprechend stärkere Wirkung erzielt. Die Hürde, jemanden zu unterstützen, wäre viel niedriger als bei Patreon, und das Geld würde viel breiter gestreut. Dadurch funktioniert es bereits für die Finanzierung einzelner Nachrichtentexte, ohne dass man erst über die Zeit zum Fan des Künstlers werden muss, bevor man willens ist Geld zu spenden. Weil man nicht sein eigenes Geld ausgibt, sondern aus dem Pool seiner Likes schöpft, die nicht in Geld für einen selbst umwandelbar sind. Im Vergleich zur bisherigen Aufmerksamkeitsökonomie wäre die durchschnittliche Qualität der mit Geld bedachten Werke und Texte weit höher. Da die Werke stets untereinander um die begrenzten Likes konkurrieren, würde diese Qualität im Laufe der Zeit weiter steigen. Statt mit reißerischen Überschriften um Aufmerksamkeit zu konkurrieren, wäre das Hauptziel stattdessen, einen so positiven Eindruck zu hinterlassen, dass der Nutzer aktiv die Unterstützung auswählt.
Dank der frei verfügbaren Information, welches Konto im Vormonat wie viel Unterstützung erhalten hat, wird das Kulturpunktegeld zumindest etwas breiter gestreut, als es sonst der Fall wäre. Da eben offensichtlich ist, wenn ein Star den Punkt nicht so sehr benötigt wie ein Nischenkünstler, und da der Star den Punkt dank Anonymität nicht verlangen kann, ohne eine komplett andere Finanzierung als über Kulturpunkte zu wählen. Was im Endeffekt bedeuten sollte, dass mehr Menschen als Medienschaffende oder Dienstleister von den Einnahmen ihrer Kulturpunkte leben können.
Die mit Kulturpunkten finanzierten Werke sind alle öffentlich und kostenfrei verfügbar, da sie nur so von möglichst vielen Bürgern einen Like erhalten werden (und da es mit voller Absicht eben keine Möglichkeit gibt, eine Zahlung zu kontrollieren). Womit wir als Gesellschaft die beliebige Kopierbarkeit digitaler Werke bestmöglich ausnutzen und einen viel größeren Nutzen aus ihnen ziehen können als heute.
Etwas, das aktuell noch keine Rolle spielen, in Zukunft aber großen Einfluss im Kulturpunktesystem bekommen könnte, sind Gesichtserkennung und KI Assistenz. Falls wir eines Tages mit Kamerabrillen herumlaufen, die unser gesamtes Leben aufzeichnen, und ein KI-Assistent alles mitverfolgt, um uns zu unterstützen, dann könnte dieser auch automatisierte Vorschläge für positive und negative Kulturpunkte generieren, je nachdem, wer uns geholfen oder geschädigt hat. Was vermutlich langfristig zu einer freundlicheren Gesellschaft führen würde. Aber das ist Spekulation über die fernere Zukunft, es braucht die Umsetzung der Zukunftsvision der Kulturpunkte nicht zu beeinflussen (da es kein Problem darstellt, falls es so kommt).
Viel eher relevant ist der Umgang mit der kommenden Flut KI-generierter künstlerischer Inhalte. Auch hier sollte die Finanzierung über Kulturpunkte weit besser funktionieren als nach dem Prinzip werbefinanzierter oder zu bezahlender Werke. Schließlich passiert der Wettbewerb hier über Qualität statt über Aufmerksamkeit oder Preis. Solange Menschen bessere Werke schaffen als KIs, und Webseiten dabei helfen, die besten Werke zu finden, werden Künstler über Kulturpunkte gutes Geld verdienen können. Und solange man die richtige Waage zwischen positiven und negativen Kulturpunkten findet, ist die Möglichkeit, Ablehnung auszudrücken, ein wirksames Instrument gegen aktiv schädliche Inhalte.