13. Wie wir beginnen
13.4 Verwandlung eines Staates
Die Zukunftsvisionen dieses Buches sind nicht alle gleich einflussreich auf unser Leben und darauf, wie gut eine Gesellschaft insgesamt funktioniert. Vor allem aber sind sie nur ein winziger Teil dessen, was tatsächlich an besseren gesellschaftlichen Systemen möglich wäre. Nicht so sehr, weil die Seitenzahl dieses Buches begrenzt ist, sondern meine Fantasie und Vorstellungskraft.
Die eine Zukunftsvision in diesem Buch, die dieses Potential insgesamt freizusetzen versucht, ist mein Staatskonzept, mit Blockchain zur Entscheidungsfindung und Gemeinschaften als Experimentierfeldern gesellschaftlicher Systeme.
Während nach dem Beispiel der Umsetzung von BGE, Kulturpunkten und Bildungswesen hoffentlich auch die Umsetzbarkeit der anderen Zukunftsvisionen dieses Buches plausibel erscheint (solange man glaubt, dass die Systeme funktionieren und stabil sind, nachdem sie einmal etabliert wurden), stellt sich beim Staatskonzept die offensichtliche Frage: Wie soll das gehen? Selbst wenn alle es wollen, wie kann sich ein Staat durch ein komplett anderes Staatskonstrukt ersetzen?
Ich denke, ich sehe einen gangbaren Weg dahin. Ich möchte ihn hier skizzieren, aber in einem viel geringeren Detailgrad als im 10. Kapitel und mit Absicht allgemein gehalten für eine beliebige Demokratie als Ausgangsstaat. Alles andere würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen.
Der erste Schritt, der offensichtlich passieren muss, ist, das Register in Form einer Blockchain zu erschaffen und die zugehörige Software zu schreiben. Das Ganze sollte quelloffen passieren, so dass sehr viele Augen nach Fehlern suchen. Mit dem Register sollten Spielstaaten betrieben werden, mit verkürzten Fristen, um die Mechanismen auszuprobieren. Dabei kann ein Preisgeld eingebaut sein, das per Zentralgesetz des Spielstaates überwiesen werden kann, für jemanden, der einen Weg findet, das System auszuhebeln. Das entspricht dem Weg, auf welchem wir Vertrauen in bestehende Digitalwährungen gewonnen haben: Haben sie eine Lücke, wird jemand sie ausnutzen, da dabei viel Geld gewonnen werden kann.
Diese Software kann bereits entstehen, bevor die Umsetzung in einem Staat geplant ist, denn sie ist auf keinen konkreten Staat zugeschnitten. Hier kann also eine möglichst gute gemeinsame Basis für alle solchen Staatsexperimente geschaffen werden.
Es sollte selbstverständlich sein, dass der Umbau eines bestehenden Staates eine verfassungsändernde Mehrheit in den Parlamenten benötigen würde, gegebenenfalls auch eine Volksabstimmung – je nachdem, auf welchem Weg die Struktur des Staates verändert werden kann. Mit ausreichend großer Mehrheit gibt es dafür immer einen Weg. Der große Trick wird sein, einen Weg zu finden, der den Staat zu jedem Zeitpunkt in einem handlungsfähigen Zustand erhält und ihn nicht angreifbar macht. Wie dieser Weg in etwa aussehen kann, beschreibe ich hier.
Zunächst muss die im 10. Kapitel vorgestellte Verfassung des neuen Staates etwas angepasst werden, um den Übergang von einem bestehenden Staat zu ermöglichen. Der bisherige Staat wird zu einer Gemeinschaft, aber einer mit Sonderrechten. Sie trägt den Namen „Startgemeinschaft“, darf mehr als 29% Stimmgewicht haben, muss im Gegenzug aber stets anteilig so abstimmen, wie ihr Parlament abgestimmt hat. Fällt die Startgemeinschaft je unter 29% Stimmgewicht, verwandelt sie sich in eine normale Gemeinschaft.
Die Startgemeinschaft hat zeitlich limitierte Sonderrechte für die Übergangsphase: Bis zu deren Ende hat die Startgemeinschaft alle Rechte einer Gemeinschaft und alle Rechte des Zentralstaates. Ihre Polizei hat also die gleichen Rechte wie die Zentralpolizei, ihre Gesetze gelten zusätzlich zu den Zentralgesetzen, Mitglieder anderer Gemeinschaften können von ihren Gerichten verurteilt werden, jeder muss ihre Schulen besuchen und so weiter.
Jetzt müssen noch die Voraussetzungen geschaffen werden, welche die neue Verfassung benennt. Da wäre zunächst einmal die Frage des Grundbesitzes (Kapitel 9.5). Es ist relativ leicht, allen Boden einfach als an die bisherigen Besitzer verpachtet zu deklarieren (das ist zunächst einmal nichts anderes als eine Umbenennung). Schwieriger ist, dass geklärt werden muss, welcher Boden zu welchem Typ gehört. Und wie Boden, der zu einem nicht verpachtbaren Typ gehört (N (Naturbelassen), I (Infrastruktur)), sich aktuell aber in Privatbesitz befindet, wieder in staatliche Hände gelangt.
Die Umstellung von der bisherigen Besteuerung des Bodens auf eine vom wirtschaftlichen Nutzen abhängige Pachthöhe, ist ein Thema, das separat und später angegangen werden kann. Es ist für das Funktionieren des Zentralstaates nicht notwendig, auch wenn es ihn dynamischer macht, seine Einnahmen verbessert und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften erhöht.
Solange die Pachthöhe nicht ausreicht, Angebot und Nachfrage von Land vom Typ D (Landwirtschaft) auszutarieren, wird die Neuverpachtung von Typ D als Typ A (Angebunden) ohne Zustimmung des bisherigen Pächters vom Staat nicht ermöglicht werden.
Es muss außerdem eine erste Fassung aller Gesetze erstellt werden, deren Existenz die Verfassung verlangt: Symbole des Zentralstaates (3.4), Umgang mit Verbannungen (5.5), Verbot von Gemeinschaften (5.8), Budget der Judikative (6.2), Schnittstelle zwischen Exekutive und Judikative (6.4), Bildungswesen (8.1), Vormundschaft in Sonderfällen (8.2), Militär, Polizei, Verpachtung.
Diese Gesetze müssen keineswegs perfekt sein, schließlich gibt es bisher noch keinen Zentralstaat. Hier sind lediglich Platzhalter der Form „wenn bis zum Ende der Übergangsphase nichts anderes beschlossen wurde, gilt ...“ nötig. Damit ist garantiert, dass sich der Zentralstaat zu keinem Zeitpunkt in einem inkonsistenten Zustand befinden kann, in welchem unklar ist, wie der Staat aktuell funktioniert.
Nachdem die neue Verfassung für den Übergang von einem bestehenden Staat angepasst, die erste Fassung jedes nötigen Zentralgesetzes geschrieben und das Register aktiviert wurde, erhalten die Bürger Accounts im Register, welche automatisch die nötigen Daten hinterlegt haben, um stimmgebende Mitglieder der Startgemeinschaft zu sein. Das ist notwendig, damit Entscheidungen im Register richtig funktionieren.
Jetzt kann der bisherige Staat die nötigen Abstimmungen durchführen, um die neue Verfassung und diese ersten Zentralgesetze gültig zu machen. Er verwandelt sich dadurch in die Startgemeinschaft des neuen Zentralstaates.
Die Startgemeinschaft, der frühere Staat, hat während der Übergangsphase weiterhin die volle Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet. Andere Gemeinschaften können sich gründen, haben aber keinen Einfluss auf die Startgemeinschaft. Deren Gesetze gelten in dieser Übergangsphase weiterhin für alle Staatsbürger, unabhängig davon, welcher Gemeinschaft sie angehören.
Andere Gemeinschaften haben aber bereits politische Rechte auf Zentralstaatsebene: Alle Entscheidungen auf dieser Ebene werden von der Startgemeinschaft dominiert, aber wenn das Parlament der Startgemeinschaft eine knappe Entscheidung fällt, können kleine Gemeinschaften das Zünglein an der Waage sein.
Beispiel: 90% der Bürger gehören weiterhin der Startgemeinschaft an. Die Startgemeinschaft möchte ein Zentralgesetz beschließen, ihr Parlament hat dem Gesetz mit 63% zugestimmt. Von den anderen, kleinen Gemeinschaften mit insgesamt 10% Stimmgewicht stimmen aber 8% Stimmgewicht gegen das Gesetz und nur 2% dafür. Die Abstimmung auf Zentralstaatsebene (Artikel 5.3) hat somit eine Zustimmungsrate von 0,63 x 0,90 + 0,02 = 58,7%. Das ist weniger als 60%, das Zentralgesetz wird daher nicht gültig.
Die Startgemeinschaft kann und muss diese Übergangszeit nutzen, um den Zentralstaat aufzubauen: Weitere Zentralgesetze verabschieden, mit ihrem Abhängigkeitsgeflecht und ihrer Finanzierung. Verfassungsrichter ernennen und mit einem Budget ausstatten, mit welchem diese die Judikative des Zentralstaates gestalten. Eine Zentralpolizei aufbauen, um die Gesetze des Zentralstaates durchzusetzen. Das Bildungswesen und das Militär in den Zentralstaat überführen.
Die Startgemeinschaft verliert durch diese Überführung nichts: Es werden lediglich Ressourcen in von der neuen Verfassung vorgegebene Formen gegossen. Da weiterhin fast alle Bürger der Startgemeinschaft angehören, kontrolliert sie diese Ressourcen auf Zentralstaatsebene trotzdem.
Die Überführung muss aber passieren, damit Mittel wie Polizei, Gesetze und Schulen nach dem Ende der Übergangszeit weiter überall und für alle funktionieren, statt nur für Mitglieder der Startgemeinschaft und nur auf Gemeinschaftsland. Letzteres ist entscheidend: Es braucht Gesetze des Zentralstaates und eine Zentralpolizei, damit nach Ende der Übergangszeit Städte und unverpachtetes sowie von Unternehmen gepachtetes Land nicht plötzlich zu einem rechtsfreien Raum werden!
Sobald das Ende der Übergangsfrist erreicht ist, sind die Gesetze der Startgemeinschaft keine Gesetze mehr, sondern Regeln, da sie nur noch für Mitglieder der Startgemeinschaft gelten. Die anderen Gemeinschaften erhalten die Kontrolle über ihr eigenes Land, nur noch durch Gesetze und Polizei des Zentralstaates beschränkt, und diese neue Form der Staatsorganisation erwacht zu echtem Leben.
Denn ab jetzt haben die Bürger eine wirkliche Entscheidungsfreiheit, unter welchen Regeln sie leben möchten. Ab jetzt wird Wettbewerb der Gemeinschaften um Mitglieder dafür sorgen, dass den Bürgern zunehmend bessere Alternativen angeboten werden. Die Gemeinschaften werden mit verschiedenen Arten gesellschaftlicher Systeme experimentieren, um ihren Mitgliedern die effizientesten, fairsten, angenehmsten anbieten zu können.
Und wenn die Übergangsphase richtig gestaltet war (wofür sie hoffentlich vorher von vielen auf Schwachstellen abgesucht wurde!), dann war der Staat zu keinem Zeitpunkt dieser Verwandlung handlungsunfähig oder besonders verwundbar.