13. Wie wir beginnen
13.5 Gründung eines Staates
Dieser grob skizzierte Ablauf zeigt, dass es selbst für das im 10. Kapitel vorgestellte Staatskonzept möglich ist, einen Weg vom aktuellen zum angestrebten Zielzustand zu finden, wenn der Konsens in der Gesellschaft dafür da ist. Es erscheint mir aber unwahrscheinlich, dass der erste Staat dieser Ausprägung so entstehen würde. Er ist zu anders, zu schwer vorstellbar, als das sich die große Mehrheit eines bestehenden Staates je auf dieses ungetestete Wagnis einlassen würde, vermute ich.
Als realistischer erscheint mir, dass sich Gleichgesinnte zusammenfinden, wenn die Chance besteht, einen neuen Staat zu etablieren, und diese Staatsform für sich wählen. In dieser Situation hat sie den Vorteil, dass mithilfe verschiedener Gemeinschaften gleichzeitig mehrere Varianten gesellschaftlicher Systeme im gleichen Staat etabliert werden können.
Falls also Ideologie der Anlass für die Gründung und dann Emigration in diesen neuen Staat ist, dann ermöglicht diese Staatsform einen viel breiteren Konsens darüber, wie man zusammenlebt, und somit mehr Mitstreiter.
Oder andersherum gesagt: Oft stellen ideologische Konflikte junge Staaten vor große Zerreißproben (z.B. die Frage der Sklavenhaltung in den USA). Über die Gemeinschaften kann jede dieser Gruppen friedlich auf die von ihr bevorzugte Art leben und durch Vorleben die Überlegenheit der eigenen Ideologie zu beweisen suchen. Der Zentralstaat gibt dabei die Spielregeln vor, an welche sich alle Gemeinschaften halten müssen (und verbietet somit z.B. unfreiwillige Sklaverei).
In der Zukunft könnten neue Staaten zum Beispiel durch die Besiedelung des Meeresbodens oder durch künstliche schwimmende Inseln entstehen (Seasteading). Das ist bisher internationales Gewässer, gehört also keinem bestehenden Staat. Mit fortschreitender Technologie wird die Besiedlung des Meeres immer leichter möglich. Irgendwann wird der Punkt erreicht werden, an dem eine Staatsgründung auf diese Art für eine ausreichend reiche Gruppe wirtschaftlich möglich ist. Es gab bereits verschiedene Versuche, Mikronationen auf dem Meer zu gründen. Sie waren aber alle viel zu klein, um überlebensfähig zu sein. Auch zukünftig wird das große Problem dieses Ansatzes bleiben, ausreichend große Flächen zu erreichen, um als eigenständiger Staat funktionieren zu können.
Erfolgversprechender in näherer Zukunft erscheint mir, mit ausreichend Geld einem bestehenden Staat unproduktives Staatsterritorium abzukaufen (z.B. Wüstengebiete[73] oder Tundra), welches sich mit ausreichend Kapital und Technologie fruchtbar machen lässt.
In jedem Fall wäre hier die Triebfeder der Staatsgründung, eine andere Art von Staat zu gründen, das in diesem Buch vorgestellte Staatskonzept zu realisieren. Wenn die Konsensbildung (Kapitel 13.1) abgeschlossen ist, dann existiert dafür ja bereits eine ausgearbeitete gemeinsame Vision. Wenn dazu ausreichend Kapital und Technologie kommen, um eine der genannten Varianten zu ermöglichen, dann ist eine Staatsgründung realistisch möglich.
Ob der neue Staat eine dauerhafte Chance auf Erfolg hat, hängt dann davon ab, wie viel Kapital zur Verfügung steht, wie groß Fläche und Einwohnerzahl sind, wie autark und wirtschaftlich überlebensfähig der Staat ist, und ob er sich diplomatisch und militärisch behaupten kann, also nicht einfach von einem Nachbarland eingenommen wird.
Zum anderen werden neue Staaten im Rahmen der Kolonisierung des Weltraums entstehen, über die ich in Kapitel 3.2 schon geschrieben hatte. Diese Weltraumkolonien werden zunächst von ihren Gründungsstaaten abhängig sein, dann aber nach und nach autarker. Gleichzeitig ist die Ausübung militärischer Gewalt aufgrund der großen Entfernungen nur eingeschränkt möglich. So wie Großbritannien daran gescheitert ist, mit seiner militärische Stärke die Unabhängigkeit der USA zu verhindern. Und wie bei den USA werden sich die Lebensumstände, Ansichten und Interessen der Weltraumkolonien radikal von denen ihrer Gründungsstaaten unterscheiden. All das sind ideale Bedingungen für Unabhängigkeitsbewegungen, weswegen das auch ein wiederkehrendes Motiv von Science-Fiction ist.
Zu guter Letzt kann ja auch aus ganz anderen Gründen eine Unabhängigkeitsbewegung in einem bestehenden Staat der Erde erfolgreich sein, so dass sich jetzt ein neuer Staat für eine Regierungsform entscheiden muss.
Im Falle dieser Unabhängigkeitsbewegungen ging es also nicht in erster Linie um die Staatsform. Aber falls zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit die Idee dieses Staatskonzeptes weit verbreitet ist, die Software für das Register existiert und mit Spielstaaten getestet wurde, dann besteht die Möglichkeit, dass der neu entstehende Staat diese Staatsform wählt.
Diese Beispiele zeigen deutlich, wie wichtig die Vorarbeit in Form von Verbreitung der Idee, Konsensbildung und Softwareentwicklung ist, noch bevor die konkrete Chance der Umsetzung besteht. Nur so kann die Möglichkeit geschaffen werden, dass relativ plötzlich auftretende Chancen genutzt werden können, eine radikale Zukunftsvision zu verwirklichen.
Wenn ein neuer Staat erst einmal bewiesen hat, dass diese Form der Organisation, mit Register und Gemeinschaften, funktionieren kann, dann erhöht das auch deutlich die Chancen dafür, dass ein bereits bestehender Staat diese neue Staatsform annimmt. Genauso, wie die Demokratie in Europa enormen Auftrieb bekam, nachdem die USA bewiesen hatten, dass diese Regierungsform funktioniert und erfolgreich ist.
Seasteading und die Besiedlung von Wüste oder Tundra sind Veränderungen der Erde (Terraforming), welche für die Menschen mehr Lebensraum und mehr Nahrung schaffen. Somit lassen sie uns die Ressourcenlimits weiter verschieben, bevor uns die Ausdehnung in das Sonnensystem gelingt (siehe „3.2 Ressourcenknappheit“).
Bilden viele schwimmende Inseln oder bewegliche Weltraumkolonien (Orbitalhabitate und Raumschiffe wie in Ian Banks' Science-Fiction-Reihe „Die Kultur“) einen Staat, so ist dieser kein geografisch starres Gebilde. Stattdessen können sich seine einzelnen Elemente (die Inseln) umgruppieren, so dass gleichartige oder befreundete Gemeinschaften benachbart sind, oder um sich anderweitig an Veränderungen oder neue Anforderungen anzupassen.
Mein Staatskonzept würde in solch einem Umfeld noch besser funktionieren. Es wäre ohne das komplexe System einer regelbasierten zentralstaatlichen Verpachtung (Kapitel 9.5) umsetzbar. Auf der anderen Seite wären einige der in diesem Buch vorgestellten Zukunftsvisionen dort nicht wie beschrieben realisierbar (vor allem die aus den Kapiteln "8. Infrastruktur" und "9. Wohnen"). Es wäre somit ein dankbares Feld für die gemeinsame Erarbeitung neuer Zukunftsvisionen.
Wird Terraforming auch durch Privatkapital finanziert, statt nur durch Nationalstaaten, dann kann es zu neuen Staaten führen. Dass bei solcher Finanzierung durch Einzelpersonen und Konzerne alle Bürger des neuen Staates Einfluss auf die Regeln haben - statt nur Milliardäre und Konzerne - ist entscheidend, damit Zukunftsvisionen (wie die in diesem Buch vorgestellten) dabei eine Chance auf Realisierung haben. Für das Staatskonzept dieses Buches gilt das natürlich ganz besonders.
Sobald ein Staat seine drängenden Probleme durch bessere gesellschaftliche Systeme entschärft hat, und seinen Blick somit kommenden Herausforderungen und sich eröffnendem Potential zuwenden kann, bieten solche Terraformingprojekte - mit ihren technologischen Herausforderungen, gesellschaftlichen Anpassungen und Potential für bessere Systeme und besseres Leben - hervorragende Ziele für freies Kapital und menschlichen Erfindungsgeist. Damit wir unseren Kindern und Enkeln nicht nur neue Technologien, sondern eine bessere Welt hinterlassen.
Es gibt also verschiedene Arten, wie in diesem Buch vorgestellte Zukunftsvisionen Wirklichkeit werden könnten. Falls sie einen guten Kern haben, ist es keineswegs verlorene Zeit, über sie zu diskutieren, sie weiter auszuarbeiten und die Vorarbeit zu leisten, welche ihre Realisierung vereinfachen würde.
Falls dabei ein griffiger Name notwendig ist, um über diesen gesamten Ideenkomplex zu sprechen, die Summe der so entstandenen Zukunftsvisionen, samt ihrer gegenseitigen Verstärkung, wenn sie in derselben Gesellschaft umgesetzt werden, so schlage ich dafür den Namen „Projekt Entfaltung“ vor. Gemäß der Denkweise, die all diesen Zukunftsvisionen zugrunde liegt und des Zieles, das sie anstreben.
Ich hoffe, ich konnte die im ersten Kapitel geweckte Erwartung erfüllen, dass dieses Buch mehr ist als nur eines unzähliger Sachbücher, welche über die Probleme unserer Gesellschaft klagen.
Ich habe, so gut ich konnte, eine mögliche bessere Zukunft gezeichnet, und die Wege dahin.
Alles weitere liegt an euch!