13. Wie wir beginnen
13.3 BGE, Kulturpunkte und Bildungswesen
13.3.1 BGE
Sehen wir uns eine konkrete Kombination von Zukunftsvisionen dieses Buches an und wie ihre Umsetzung aussehen könnte, um diesen allgemeinen Ablauf besser zu veranschaulichen.
Ich greife dafür als Beispiel die Kombination der Zukunftsvisionen eines bedingungslosen Grundeinkommens, der Kulturpunkte und des Bildungswesens heraus, und die Möglichkeit ihrer Umsetzung in Deutschland.
Das BGE, welches aufgrund von Effizienzgewinnen weniger Geld kostet als die Systeme, die es ersetzt, stellt dabei das Geld zur Verfügung, welches für die Umsetzung von Kulturpunkten und eines besseren Bildungswesens notwendig ist.
Auf Länder wie die USA, in welchen durch eine Umstellung auf ein BGE kein Geld eingespart werden könnte, da sie dafür kein ausreichend dichtes Netz von Sozialleistungen haben, ist dieses Beispiel nicht übertragbar. Dort müsste auf anderem Weg Geld eingespart oder mehr Geld eingenommen werden (z.B. durch den Umbau des Gesundheitswesens.).
Das BGE soll das gesamte Sozialsystem ersetzen, mit Ausnahme von Kranken- und Pflegeversicherung (das Gesundheitswesen ist ein eigenes gesellschaftliches System). Es geht hier um solidarische Leistungen des Staates, welche die Grundbedürfnisse abdecken. Alles was darüber hinausgeht, indem es bestimmte Risiken besser absichert (Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Sachschäden, ...) oder eine Kapitalvorsorge bietet (Rente, Lebensversicherung), sollte in Form freiwilliger Versicherungen passieren. Der Staat kann Regeln und Rahmenbedingungen vorgeben, aber im System staatlicher Pflichtabgaben hat das nichts verloren.
Weg zur Berechnung der Ausgabenverringerung durch Umstellung auf ein BGE:
Ich versuche nicht, hier ein Zahlenwerk für das bisherige Sozialsystem in Deutschland aufzuschlüsseln, um es mit dem BGE zu vergleichen. Das übersteigt meine Kompetenzen und würde den Rahmen des Kapitels sprengen. Im Zuge der Konkretisierung müssten für Finanzierung und Ausgestaltung des BGE folgende Daten zusammengetragen werden:
Ist-Zustand:
- Wie viel Geld gibt der Staat für das Sozialsystem ohne Kranken- und Pflegeversicherung insgesamt aus?[66]
- Wie viel Geld generiert der Staat insgesamt aus der Lohnsteuer und wie viel aus Beiträgen zu Sozialversicherungen (ohne Kranken- und Pflegeversicherung)?
- Wie viel Geld fließt dem Sozialsystem aus anderen Quellen zu (= Kosten - Lohnsteuer - Beiträge)?
- Welche Personengruppen erhalten staatliche Unterstützung in welcher Gesamthöhe je Person?
BGE-Zustand:
- Einwohnerzahl (85 Millionen)
- BGE Ausgaben (Höhe festlegen, dann Einwohner x Höhe)
- andere Einsparungen durch das BGE (z.B. durch Erhebung eines Schulgeldes, mit welchem das BGE für Kinder austariert wird)
- Wo hätten Personengruppen nach der Umstellung des Sozialsystems auf das BGE deutlich weniger Geld zur Verfügung? Gibt es Sozialleistungen, die separat erhalten bleiben müssen, um Ungerechtigkeit zu vermeiden (ich gehe davon aus, dass dies nicht nötig ist, aber es muss ausführlich geprüft werden)? Falls ja, welche zusätzlichen Kosten für den Staat bedeutet das?
- mit welchem fixen Lohnsteuerprozentsatz110 generieren wir genug Einnahmen, um zusammen mit den anderen Quellen die Ausgaben des neuen Systems (BGE Ausgaben+evtl. verbleibende Sozialleistungen-andere Einsparungen) zu generieren?
Um die Plausibilität zu prüfen, den Menschen eine Vorstellung zu geben, und um eine Diskussionsgrundlage zu haben, sollte jetzt die Steuerlast im neuen System (fixe Lohnsteuer, von welcher das BGE abgezogen wird) mit dem bisherigen System (variable Lohnsteuer nach Steuerklasse und Einkommenshöhe, plus Sozialversicherungen) verglichen werden.111
Welche Einkommensgruppen werden durch den Wechsel auf das BGE deutlich besser oder schlechter gestellt als bisher?
Gruppen, die schlechter gestellt werden, werden gegen den Systemwechsel sein. Ist die Schlechterstellung gerechtfertigt, da es bisher unfair war? Eine gute Begründung würde helfen, die Veränderung zu rechtfertigen. Oder sollte Höhe des BGE und Lohnsteuersatzes anders gewählt werden?
Gruppen, die besser gestellt werden, werden für den Systemwechsel sein, bedeuten aber auch weniger Einnahmen für den Staat. Ist die Besserstellung gerechtfertigt, da es bisher unfair war? Oder sollte Höhe des BGE und Lohnsteuersatzes anders gewählt werden?
Es ist auch deshalb wichtig, einen Überblick darüber zu haben, welche Personengruppen mit BGE wie viel mehr oder weniger an Geld erhalten als vorher, weil all dies zusätzliche Effekte auf die Gesellschaft sind, die Nebenwirkungen haben. Wir können mit einer Umstellung des Sozialsystems schlecht vorher experimentieren. Daher sollten wir in der Vorbereitung unser Möglichstes tun, die Folgen dieser Veränderungen abzuschätzen.
Die gesammelten Informationen aus den „Ist-Zustand“- und „BGE-Zustand“-Auflistungen können wir leicht abgewandelt als diese Berechnung zusammenfassen:
andere Quellen = „Ist-Kosten Sozialsystem ohne Kranken- und Pflegeversicherung“ - „Ist-Einnahmen Lohnsteuer“ - „Ist-Einnahmen Sozialversicherungen (ohne Kranken- und Pflegeversicherung)“
Überschuss = „BGE-Einnahmen Lohnsteuer“ + „andere Quellen“ - „BGE-Zustand Ausgaben“ + „andere Einsparungen“
Zusätzlich zu dem hier berechneten Überschuss werden im Laufe der Zeit weitere positive Effekte entstehen. Mehr Wirtschaftswachstum durch höhere Motivation der Bürger, ihr Einkommen zu verbessern. Mehr ehrenamtliche Tätigkeit, da die eigene Existenz gesichert ist. Mehr Unternehmertum, da die Menschen willens sind, mehr Risiken einzugehen. Mehr Menschen, die sich ihrer künstlerischen Leidenschaft widmen oder alternative Lebensentwürfe einschlagen.
Aber all dies sind eben Effekte außerhalb des Sozialsystems selbst, schwer modellierbar, und werden in der Kostenberechnung von uns daher nicht berücksichtigt.
Das Sozialsystem ist der größte Ein- und Ausgabeposten des Staates. Bereits kleine prozentuale Verbesserungen können hier daher einen betragsmäßig sehr großen Überschuss generieren. In Deutschland reden wir hier von einer Kostengrößenordnung von 1 Billion Euro pro Jahr (etwas weniger als 50% des Gesamthaushalts des Staates). Mit der Festlegung von BGE-Höhe und Lohnsteuersatz legen wir fest, bei welcher Effizienzsteigerung die Grenze zwischen Schlechter- und Besserstellung der Bevölkerung insgesamt im Vergleich zum bisherigen Sozialsystem liegt. Ich denke, 10% Effizienzsteigerung sind dafür eine sehr konservative Schätzung.
Nehmen wir diese konservative Schätzung als unseren Maßstab und legen BGE-Höhe und Lohnsteuersatz so fest, dass 10% der bisherigen Ausgaben des dadurch ersetzten Sozialsystems als Überschuss verbleiben. Im Deutschen Staatshaushalt werden dadurch etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr frei.112
Dieses Geld kann dann für die Realisierung anderer Zukunftsvisionen eingesetzt werden. Natürlich könnte man das Geld stattdessen auch umgehend als Steuersenkung oder als Erhöhung des BGEs an die Bevölkerung zurückgeben. Der positive Effekt, wenn man damit andere Zukunftsvisionen realisiert, ist aber weit größer. In unserem Beispiel werden dies das Bildungswesen und die Kulturpunkte sein.
13.3.2 Kulturpunkte
Wir hatten die jährlichen Kosten für die Kulturpunkte in Deutschland im Kapitel 5.3 auf 50 Milliarden Euro geschätzt (85 Millionen Bürger x 12 Monate x durchschnittlich 50 eingesetzte Kulturpunkte pro Person).
Davon gehen direkte Einsparungen in anderen Bereichen ab: Wenn wir im Gegenzug das BGE um 10 Euro senken, weil jeder im Schnitt mehr als 10 Freunde und Bekannte hat, die ihn in ihrer Kulturpunkteliste eintragen, dann sinken unsere Ausgaben um 10 Milliarden Euro. Wenn der Rundfunkbeitrag gestrichen und durch mehr Lohnsteuer ersetzt wird (also unveränderte Staatseinnahmen), der Staat für einen verbleibenden Fernseh- und Radiosender (die Tagesschau ist eine nationale Institution und muss erhalten bleiben!) noch 1 Milliarde Euro ausgibt statt aktuell 9 Milliarden[68], dann hat der Staat seine Ausgaben um weitere 8 Milliarden Euro gesenkt. Mit niedrigerer Kulturunterstützung113, da wo diese Rolle von Kulturpunkten übernommen wird (z.B. bei Straßenfesten), ergeben sich vielleicht verbleibende Kosten von 30 Milliarden Euro für diese Zukunftsvision. Diese Kosten können wir aus dem Überschuss der Umstellung auf das BGE problemlos finanzieren.
Anders als beim Sozialsystem können wir das System der Kulturpunkte gut testen, bevor wir es landesweit ausrollen. Diese Chance sollten wir nutzen. Und die ideale Testumgebung sind: Schulen!
Schulen sind sehr dynamische soziale Umgebungen, und sie können leicht aufgrund falscher Anreize kippen. Zudem sind Kinder sehr erfinderisch, was den Umgang mit Technologie und ihre Nutzung auf ungeplante Weisen angeht.
Zu guter Letzt haben Kinder einen viel größeren Anreiz, Schwächen im Kulturpunktesystem auszunutzen: Während sich viele Erwachsene schulterzuckend mit den vielleicht ein Dutzend Kulturpunkten von Freunden und Verwandten zufrieden geben werden, weil das im Vergleich zu ihren Tausenden Euro an Einkommen kein hoher Betrag ist, macht für Kinder, mit wenigen Euro Taschengeld, jeder Euro mehr durch Kulturpunkte einen deutlichen Unterschied. Somit bietet ein Test an Schulen die beste Chance, Probleme mit dem Kulturpunktesystem zu bemerken, bevor wir es für alle Bürger ausrollen.
Für Kinder haben Kulturpunkte eine größere Bedeutung als für Erwachsene, falls sie in diesem System mitmachen. Sowohl in ihrem sozialen Umfeld, als auch finanziell. Natürlich könnte man stattdessen festlegen, dass erst Volljährige ein Kulturpunktekonto erhalten, um dieser ganzen Problematik aus dem Weg zu gehen. Als Plan B werden wir uns diese Option auch in der Hinterhand behalten.
Aber wenn irgend möglich, wollen wir bereits Schüler ab der fünften Klasse mit in das Kulturpunktesystem aufnehmen. Schließlich sollen auch Kinder bereits Dinge unterstützen können, die sie gut finden.
Außerdem sollen Kulturpunkte nicht nur Kultur fördern, sondern über diese digitale Anerkennungswährung auch unseren sozialen Umgang miteinander verbessern. Wenn für Schüler dieser Effekt ausgeprägter als für Erwachsene auftritt, ist das nicht nur ein gutes Testszenario: Es ist auch der Bereich, wo dieser Aspekt der Kulturpunkte seine stärkste positive Wirkung entfalten kann, falls er funktioniert.
Wir werden in diesem Beispiel parallel zu den Kulturpunkten auch mit dem Umbau des Schulsystems beginnen. Da wir auch dort mit Pilotprojekten starten werden, bevor wir es landesweit umbauen, beeinflusst das unsere Tests der Kulturpunkte aber nicht.
Die Variablen, für welche wir an verschiedenen Schulen verschiedene Werte testen werden, um die beste Variante zu finden, sind Anzahl positiver Kulturpunkte, Anzahl und Wichtung negativer Kulturpunkte, sowie Art und Umfang der Erklärung des Kulturpunktesystems.
Psychologen führen regelmäßige Befragungen der Schüler durch und beobachten sie im Schulalltag, um so gut wie möglich zu verstehen, was für Auswirkungen Kulturpunkte auf ihr Verhalten und auf die soziale Struktur der Schule haben. Vermutlich bekommen die Schüler, für die Dauer der Pilotstudie, Laptops mit installierter Kulturpunkteapp (die sie auch mit nach Hause nehmen dürfen).
Anhand der Erfahrungen des ersten Testjahres werden dann Veränderungen vorgenommen (Verbesserungen der App, Anzahl und Wichtung der Kulturpunkte, Erklärungen für die Schüler), und der Test wird an anderen Schulen wiederholt.
Weiter auf Ablauf und Details der Pilotprojekte einzugehen ist hier nicht notwendig. Sie sind offensichtlich umsetzbar.
Zum Abschluss nur ein kurzes Beispiel, vor welche Art von Herausforderungen die schulische Umgebung das Kulturpunktesystem stellt, und warum ich glaube, dass es für den Rest der Gesellschaft bereit ist, wenn es sich hier behaupten kann, ohne zu kippen:
Wie kann sich ein Schüler verhalten, der von seinen Mitschülern gemobbt und im Rahmen dessen gezwungen wird, seine Kulturpunktelisten vorzuzeigen? Die Mitschüler wollen ihn dazu zwingen, dass sie von ihm positive statt negativer Kulturpunkte bekommen, das Äquivalent zum Stehlen des Essengeldes. Neben Eskalationsmöglichkeiten außerhalb des Kulturpunktesystems (Eltern oder dem Vertrauenslehrer vom Mobbing berichten...), hat der Schüler folgende Möglichkeit:
Er trägt die ihn mobbenden Schüler auf seiner positiven Liste ein. Er kann sie bei Bedarf vorzeigen. Am Abend vor Monatsende, Zuhause wenn die Mitschüler keine Einsicht mehr fordern können, verschiebt der Schüler die Einträge in die Negativliste. Am ersten Morgen des neuen Monats, bevor er zur Schule geht, stellt er per Knopfdruck den alten Zustand wieder her (das ist möglich, da sich die App diese Aktionen innerhalb der letzten 48 Stunden des Monats separat merkt, und sie nach der Wiederherstellung vergisst). Seine Mitschüler haben also immer nur ihre Einträge in der Positivliste gesehen, wurden dennoch mit negativen Kulturpunkten abgestraft, und können ihm diese nicht zuordnen (wenn der durchschnittliche Schüler 20 positive und 10/2 negative Kulturpunkte bekommt, hat er keine Ahnung, zu welcher Seite sein Mobbingopfer beigetragen hat).
Sobald wir dank der Pilotprojekte wissen, dass das Kulturpunktesystem robust genug ist und die App funktioniert, wird es landesweit ausgerollt. Mit ausführlicher Information der Bürger, was das ist, wie es funktioniert und welche Auswirkungen ihr Verhalten hat. An Schulen wird es dafür in allen Jahrgängen ab der fünften Klasse Unterrichtseinheiten geben, in denen es erklärt wird (und in denen Schüler, die über Smartphone oder Laptop verfügen, es einrichten und ausprobieren können).
Die Nutzung wird graduell ansteigen, in dem Maße, in dem Bürger die App installieren und ihre Kulturpunkteliste füllen.
So, wie die Ausgaben für das System erst nach und nach ansteigen, wird der Staat auch die öffentlich-rechtlichen Sender nicht sofort einstellen und Kulturförderung nicht sofort zurückfahren. Es gibt keinerlei Grund, hier eine Lücke entstehen zu lassen, in der das neue System noch nicht funktioniert, das alte aber bereits abgebaut wurde.
Welche positiven Effekte wir uns vom Kulturpunktesystem erhoffen, um deretwillen der Staat soviel Geld dafür ausgibt, haben wir ja in Kapitel 5.3 bereits ausführlich betrachtet. Zur besseren Vorstellbarkeit hier daher nur die folgende Zahl: Die Finanzierung des Kulturpunktesystems bewirkt, dass es in Deutschland in Zukunft etwa 400 000 Menschen114 geben wird, die über Anerkennung bezahlt werden, statt über Aufmerksamkeit (via Werbung) oder direkt in Euro. Für die es also völlig egal ist, ob sie jemandem Armen oder Reichen helfen, die auf Gesamtdankbarkeit setzen, statt die Zahlung Einzelner zu kontrollieren. Und es ist die Bevölkerung, nicht der Staat, die auswählt, wem diese Bezahlung über Kulturpunkte zukommt.
Da diese Menschen einen so überproportional großen Einfluss haben (Medien, Künstler, Webseiten), sollte dieser Hebel ausreichen, die Gesamtgesellschaft deutlich zum Positiven zu verändern.
13.3.3 Bildungswesen
Kommen wir jetzt zur dritten Zukunftsvision, die wir in diesem Beispiel umsetzen wollen, ebenfalls aus dem Überschuss der Umstellung auf das BGE finanziert: dem Bildungswesen.
Im Vergleich zu den anderen beiden Zukunftsvisionen hat es die höchste Einstiegsbarriere, bevor wir eine Umsetzung angehen können. Es benötigt nämlich eine Grundgesetzänderung, denn Bildung ist in Deutschland bisher Ländersache. Das resultiert aus Artikel 30 des Grundgesetzes: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt.“[70]. Bisher listet kein nachfolgender Artikel Bildung als Sache des Bundes auf, und das müsste hinzugefügt werden.
Noch bevor mit der Grundgesetzänderung die nötige rechtliche Rahmenbedingung geschaffen ist, um mit dem Umbau des Bildungssystems zu starten, braucht es eine Kapazitätsplanung und das Entwerfen eines Plans, wie wir zum Zielzustand gelangen wollen. Denn anders als bei BGE und Kulturpunkten können wir hier nicht einfach neue Regeln schaffen, Software schreiben, Geldströme umleiten, und plötzlich funktioniert alles anders. Schule findet in Gebäuden statt und wird von Lehrkräften unterrichtet, die in ihrem Studium bestimmte Schulfächer und Unterrichtsmethoden gelernt haben. All das soll sich aber ändern! Um das zu erreichen, werden wir ein schrittweises Vorgehen und einen langen Atem brauchen.
Wir haben im 7. Kapitel das Schulgebäude dieser Zukunftsvision vorgestellt, ausgelegt auf 1 000 Schüler, unterrichtet von 100 Lehrern. Wir brauchen tatsächlich aber mehr Lehrer pro Schule, um eine Reserve für Krankheiten zu haben und in Teilzeit arbeitende Lehrer auszugleichen. In Deutschland arbeiten aktuell etwa 40% der Lehrer in Teilzeit, sie arbeiten im Schnitt 20 Stunden pro Woche statt 40. Damit brauchen wir also 40 unserer 100 Lehrer doppelt und kommen mit Krankheitsreserve auf grob geschätzte 150 Lehrer pro Schule.
Wie viele Schulen brauchen wir? Im Schuljahr 2023/2024 gab es in Deutschland 8,8 Millionen Schüler an allgemeinbildenden Schulen[71]. Nehmen wir an, dass dies auch die Anzahl der Schüler im neuen Bildungssystem sein wird, dann benötigen wir 8 800 Schulen. Bevor wir über die Schulgebäude nachdenken, gehen wir aber erst einmal zurück zu den benötigten Lehrkräften: 8 800 x 150 = 1 320 000 Lehrkräfte. Aktuell haben wir in Deutschland etwa 800 000, wir müssen also über 500 000 zusätzliche Lehrkräfte ausbilden!
Gehen wir im Schnitt von 4 000 Euro an Kosten pro Monat und Vollzeitstelle aus, dann kosten diese 520 000 zusätzlichen Lehrkräfte im Jahr etwa 20 Milliarden Euro115. Bezahlen können wir es also, aber wir müssen sie natürlich erst einmal finden und ausbilden!
Glücklicherweise benötigen wir diese neuen Lehrkräfte nicht alle auf einmal, da wir auch die Schulen erst nach und nach auf das neue System umstellen. Je mehr wir ihre Ausbildung über viele Jahre strecken können, desto weniger neue Ausbildungsstätten benötigen wir, desto leichter wird es, ausreichend angehende Lehrer zu finden, und desto besser wird sich Jahrzehnte später die Verrentung der neuen Lehrer auf viele Jahre verteilen.
Hier muss also ein Plan erstellt werden, bis wann wie viele neue Lehrer benötigt werden und welche Ausbildungskapazitäten dafür bis wann verfügbar sein müssen. Auch die Lehrpläne für die einzelnen Module müssen hierfür bereits erarbeitet werden. Wir benötigen sie, um die Ausbildung der Lehrer für das neue System durchführen zu können (jeder Lehrer lernt, wie er eine Handvoll Module unterrichtet).
Ich bin guter Hoffnung, dass sich genug junge Menschen für diesen Beruf begeistern lassen, wenn sie wissen, dass ihre neue Arbeitsumgebung viel besser sein wird als die heutigen Schulen und der Lehrerberuf einen sicheren Arbeitsplatz bedeutet.
Zusätzlich werden wir auch mehr andere Angestellte benötigen, da wir den Lehrern ja so viele Aufgaben abseits des Unterrichts abnehmen möchten wie möglich. Einfach weil es so eine runde Summe wird, nehme ich für dieses Beispiel 36 zusätzliche Planstellen je Schule an. Das sind insgesamt weitere 320 000 Angestellte für 15 Milliarden Euro im Jahr (8 800 x 36 x 4 000€ x 12).
Kommen wir zurück zu den Schulgebäuden. Das Bildungskonzept sieht eine einheitliche Größe der Schulen vor, um gut zu funktionieren, eine bestimmte Raumaufteilung und ausreichend Grünfläche um das freistehende Schulgebäude. Die bestehenden Schulen in Deutschland passen nicht zu diesem Konzept. Der Bau einer neuen Schule dieser Größe kostet gegenwärtig aber etwa 60 Millionen Euro[72], und wir brauchen 8 800 von ihnen...
Dass wir durch Effizienzsteigerungen nicht günstiger werden können, ist eine pessimistische Annahme, aber 60 Millionen Euro pro Schule sind machbar, wenn man die Gesamtkosten über genug Jahre verteilt. Wir geben ja auch aktuell nicht gar kein Geld für neue Schulgebäude aus. Die nötigen Mehrausgaben sollten also zumindest etwas unterhalb der Gesamtkosten liegen.
Jedes Jahr 500 Schulen des neuen Typs zu bauen, für nicht mehr als 25 Milliarden Euro Mehrausgaben pro Jahr, so dass nach 18 Jahren schließlich alle Schulen ersetzt sind, erscheint mir ein sinnvoller Zeitplan. Er bedeutet, dass über die Jahre Kapazitäten aufgebaut werden, die ein Bauprojekt nach dem anderen angehen.
Vor allem sollte es deutliche Effizienzgewinne geben, wenn wir nicht jede Schule einzeln planen, sondern einen Masterplan erarbeiten, der im Laufe der Zeit immer weiter verbessert und von den Teams immer wieder abgearbeitet wird. Gleiches gilt später auch für den Reparaturzyklus der Schulen, der sich dann ebenfalls über 18 Jahre erstreckt.
Wenn ich mir Bauvorhaben in anderen Ländern ansehe, sehe ich nicht ein, dass es viele Jahre dauern muss, eine Schule zu bauen: Wenn das Ganze schneller abgearbeitet wird, senkt das die Kosten und lässt das Team schneller mit dem nächsten Projekt, dem Bau der nächsten Schule starten. Der Staat kann die Baukosten analysieren, und Regeln vereinfachen, wo dies Kosten- und Zeitersparnisse verspricht.
Im ersten Jahr würde also vielleicht der Bau von zehn dieser Schulen angegangen werden, um Erfahrungen zu sammeln, Probleme und Optimierungen zu finden. Und dann werden jedes Jahr mehr neue Bauprojekte gestartet, bis schließlich 500 neue Schulen pro Jahr gebaut werden. Da die Einführung des neuen Schulmodells parallel zum Bau der Schulen passiert, wird der Unterricht also teilweise in alten Gebäuden stattfinden. Aus dem Maß ihrer Ungeeignetheit für das neue Schulmodell (zu klein, falsche Raumaufteilung, zu wenig umgebende Grünfläche) ergibt sich, zusammen mit dem aktuellen baulichen Zustand der Schulen, somit eine Reihenfolge der Schulen, für die neue Parks geschaffen oder bestehende umgestaltet, und neue Gebäude errichtet werden müssen. Bis diese verfügbar sind, wird es viele kleine und große Kompromisse geben müssen, das neue Schulsystem in den vorhandenen Gebäuden so gut wie möglich umzusetzen.
Genauso wie bei den Bauprojekten wird es auch beim Umstellen des Unterrichts auf das modulbasierte Modell einige Vorreiterschulen geben, um Erfahrungen zu sammeln, Probleme und Optimierungen zu finden. Hierfür benötigen wir auch erste Lehrer, die nach dem neuen System unterrichten können.
Es werden also einige Schulen ausgewählt, deren bestehende Gebäude und Grünflächen bereits sehr gut für das neue Modell geeignet sind. In ihnen beginnen fünf Lehrerpaare von je zwei Vollzeitstellen (mit einer Vollzeitstelle als Krankheitsreserve bei 40% Teilzeitquote also 15 Lehrer) damit, fünf parallele Klassen im 1. Level zu unterrichten. Denn dieses Unterrichtsmodell ist so komplett anders, dass Schüler nicht in dieses Modell wechseln können. Folglich können auch keine ganzen Schulen auf einmal umgestellt werden. Stattdessen werden neue Schüler im 1. Level beginnen und ab da die Schule im neuen System durchlaufen.
Nach einem Vorlauf von vielleicht zwei oder drei Jahren, um Probleme zu finden, bevor das gesamte Schulsystem dagegen rennt, schulen dann alle anderen Schulen ihre neue Schüler ebenfalls nach dem neuen System im 1. Level ein. Das bedeutet, dass jedes Jahr 132 000 weitere Lehrer nach dem neuen System unterrichten (8 800x15), teils neu ausgebildete, teils weitergebildete. In der gleichen Zeit sinkt die Zahl der Lehrer kontinuierlich ab, die die verbleibenden älter werdenden Schüler noch im alten klassenbasierten System unterrichten.
Zehn Jahre nachdem die ersten Vorreiterschulen damit begonnen haben, verlassen dann die ersten Schüler ihre Schulen mit Listen abgeschlossener Module statt mit Abschlusszeugnissen, bevor dies zwei bis drei Jahre später für alle Schüler gilt. Bis dahin müssen berufsbildende Schulen, Hochschulen und ausbildende Betriebe darauf vorbereitet sein. Und wir wollen ja auch das Ausbildungssystem auf eine modulbasierte duale Ausbildung umstellen. Genauso wenig wie ich dies im 7. Kapitel genauer beschrieben habe, tue ich es hier: Es wird sich von Beruf zu Beruf unterscheiden. Das Grundprinzip läuft analog zum allgemeinbildenden Schulsystem, bei dessen Umstellung gewonnene Erfahrungen können genutzt werden.
Besonders für diesen Umbau des Bildungswesens braucht es einen breiten Konsens der Gesellschaft. Ganz zu Beginn für die Grundgesetzänderung, aber auch langfristig. Denn dieser Umbau erstreckt sich auf Unterrichtsseite mit zwei Jahren Vorbereitung, drei Jahren Modellschulen, zehn Jahren Übergangsphase nach Schuljahren und drei Jahren dualer Ausbildung, über insgesamt 18 Jahre, bevor alle junge Erwachsene, die in den Berufsalltag wechseln, dieses neue Schulsystem durchlaufen haben. Und die gleichen 18 Jahre sind auch nötig, bevor alle Schulgebäude neu gebaut und somit bestmöglich für dieses neue Schulsystem geeignet sind.
Als Lohn der Mühe haben am Ende alle Kinder Deutschlands eine glücklichere Schulzeit, mehr Spaß am Lernen und eine Wissensbasis, die sie viel besser befähigt, sich in unserer immer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden. Sie werden aufgrund des Modulaufbaus der Schulbildung ein viel breiter gestreutes Wissen haben, so dass eine viel größere Menge nützlichen Wissens von vielen Menschen beherrscht wird (statt aktuell nur dem, was im für alle gleichen Lehrplan steht). Das wird die Gesellschaft als Ganzes anpassungs- und widerstandsfähiger machen.
Zu guter Letzt habe ich auch die Hoffnung, dass eine Gesellschaft, deren Mitglieder dieses neue Bildungssystem durchlaufen haben, besser darin sein wird, gute politische Entscheidungen zu treffen und bei Problemen aller Art nicht in Panik zu verfallen oder die Augen vor ihnen zu verschließen, sondern nach den bestmöglichen Lösungen zu suchen. Die Tatsache, dass in diesem Beispiel nicht nur das Bildungswesen reformiert, sondern auch Kulturpunkte und ein BGE eingeführt wurden, sollte diese Hoffnung realistischer machen.
13.3.4 Ergebnis
Betrachten wir jetzt alle drei in diesem Beispiel umgesetzten Zukunftsvisionen noch einmal zusammen. Alle genannten Kostenzahlen sind nicht mehr als grobe Schätzungen für das, was ein detaillierter Finanzplan wirklich ausarbeiten müsste. Zumindest habe ich mich bemüht, moderat pessimistische Annahmen bei den Kosten zu treffen. Stellen wir sie also einmal alle zusammen, um zu sehen, ob unser Beispiel zumindest plausibel aussieht.
Kostenänderungen für den Staat pro Jahr:
+100 Milliarden Euro (BGE)
- 30 Milliarden Euro (Kulturpunkte)
- 20 Milliarden Euro (530 000 Lehrkräfte = 424 000 Vollzeitstellen)
- 15 Milliarden Euro (320 000 Angestellte im Bildungswesen)
- 25 Milliarden Euro (500 Schulgebäude pro Jahr, für 500 000 Schüler)
__________________________
= 10 Milliarden Euro (Reserve)
Allen drei Zukunftsvisionen ist gemein, dass sie auf eine Transformation der Gesellschaft abzielen.
Das BGE, indem es eine sichere Basis bietet, von der aus die Menschen Risiken eingehen können oder das tun, was sie für richtig halten.
Die Kulturpunkte, indem sie die Gesellschaft ein Stück weit weg vom puren Kapitalismus und hin zu einer Honorierung freundlichen Verhaltens lenken. Was vor allem zu einer drastischen Verbesserung unserer Medienlandschaft führen sollte.
Das Bildungswesen, indem wir zukünftige Generationen viel besser auf unsere komplexe Welt vorbereiten, als wir das aktuell tun.
In Summe glaube ich, dass die Realisierung dieses Beispiels, mit dem Umbau des Bildungswesens und der Einführung von Kulturpunkten und BGE, in einer Generation zu einer völlig veränderten Gesellschaft führen würde. Die viel besser in der Lage wäre, sich in dieser Welt zu behaupten und weitere notwendige Transformationen anzugehen, ohne zu verzagen.
Und erinnert ihr euch noch an die positiven Folgeeffekte der Zukunftsvisionen auf den Rest der Gesellschaft, die ich in all diesen Rechnungen absichtlich ausgeblendet habe? Sobald sie, in welchem unbekannten Umfang auch immer, dann doch eintreten, stellen sie dem Staat zusätzliche Ressourcen zur Verfügung. In Form größeren Wirtschaftswachstums und höherer Steuereinnahmen, fähigerer Staatsangestellter und besserer Infrastruktur, einer effizienteren Gesellschaft. Und diese neu verfügbaren Ressourcen können dann eingesetzt werden, um die Umsetzung weiterer Zukunftsvisionen oder die Bewältigung neuer Probleme anzugehen, oder um Menschen anderer Staaten eine helfende Hand anbieten zu können.