13. Wie wir beginnen
13.2 Umsetzung
Der vierte Schritt ist die Konkretisierung der Zukunftsvision. Jetzt, und erst jetzt, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, wie der Aufbau eines solchen Systems, oder der Umbau dahin, in der wirklichen Welt erfolgen könnte. Sobald sich online eine Gruppe zusammenfindet, die in einem konkreten Staat die Realisierung einer dieser Zukunftsvisionen angehen möchte.
Jetzt ist es ist an der Zeit, das bestehende System in diesem Staat genau zu analysieren: das Rechtssystem und die Rahmenbedingungen, die es vorgibt, oder die vorher verändert werden müssten. Welche Einstellungen die Gesellschaft hat, und ob man durch Abwandlung der Zukunftsvision die Akzeptanz deutlich erhöhen könnte, ohne sie nennenswert schlechter zu machen (oder die Abwandlung später leicht rückgängig gemacht werden kann, falls sich die Einstellung der Gesellschaft ändert).
Das Gute ist, dass es jetzt viel mehr Menschen gibt, die bei solch einem Projekt mithelfen, da das gemeinsame Ziel bereits klar ist. Es geht in diesem Schritt eben nicht mehr darum, sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, sondern man kann sich darauf konzentrieren, den besten Weg dahin zu finden und welche Kompromisse eingegangen werden sollten.
Auch muss dieser Schritt nicht mehr zwingend online stattfinden.
In einem demokratischen Land kann er zum Beispiel auch dadurch erreicht werden, dass Parteimitglieder von der Zukunftsvision überzeugt werden, oder Menschen einer Partei beitreten, um die Umsetzung der Zukunftsvision im Programm dieser Partei zu verankern. Das zu erreichen wird umso leichter sein, je höher die Bekanntheit der Zukunftsvision ist (Schritt 2) und je besser sie bereits ausgearbeitet wurde (Schritte 3 und 4).
Es ist übrigens keinesfalls so, dass diese Partei eine alleinige Regierungsmehrheit benötigt, damit die Zukunftsvision umgesetzt wird. Wenn es genug Wählern wichtig ist, werden andere Parteien anfangen, sich dieser Position anzunähern, um keine Stimmen zu verlieren. Der von den Grünen geforderte Atomausstieg in Deutschland wurde am Ende von der CDU umgesetzt, ohne dass die Grünen an dieser Regierung auch nur beteiligt gewesen wären!
Der fünfte Schritt ist die tatsächliche Umsetzung der im vierten Schritt entstandenen Konkretisierung. Sei es durch die Umsetzung eines Parteiprogramms (aufgrund einer absoluten Mehrheit oder eines Koalitionsvertrags) oder weil ein autokratischer Herrscher es so angeordnet hat.
Vergleichen wir an dieser Stelle zwei verschiedene Wege, auf welchen ein gesellschaftliches System zustande kommen und verändert werden kann. Den klassischen Weg, und den von mir soeben beschriebenen.
Der Weg, den wir überall auf der Welt sehen, ist folgender:
1. Ein gesellschaftliches System wird erstmals eingeführt (z.B. eine Sozialversicherung).
2. Es werden Probleme damit festgestellt.
3. Es werden Veränderungen am System vorgenommen, von denen man glaubt, sie würden die Probleme korrigieren.
4. Weiter zu Punkt 2.
Dieses Vorgehen der schrittweisen Verbesserungen scheint das Normalste der Welt zu sein.
Der offensichtliche Vorteil ist, dass man das System einfach laufen lassen kann, solange keine Probleme auftreten. Außerdem hat man meist eine sehr gute Idee, wie sich Veränderungen auswirken, da man das System nur in kleinen Schritten verändert. Dafür nimmt man aber als Nachteil in Kauf, das System unverändert zu lassen, wenn man keine Veränderung findet, die es besser machen würde. Oder falls man keine Probleme sieht.
Warum ist das ein Nachteil?
Sehen wir uns am Beispiel des Gesundheitswesens in Deutschland an, was die Veränderung eines einzelnen Parameters jeweils bewirken würde, wenn wir einfach nur das bestehende System mit einem kleinen Schritt verbessern wollen, ohne einen Zielaufbau vor Augen zu haben:
• mehr Studienplätze für Ärzte: hilft, Ärztemangel zu beheben[65]
• mehr Geld für Ärzte auf dem Land: erhöht Gesamtkosten zu stark
• mehr Vorsorgeuntersuchungen: keine Kapazitäten der Ärzte dafür
• Vorsorgeuntersuchungen bündeln: mit Aufbau des Systems unvereinbar
• Ärzten weniger Geld bezahlen: verstärkt Ärztemangel
• Polikliniken: nicht in staatlicher Kontrolle, seine Kosten sinken nicht
• Änderung bezahlter Leistungen: führt jedes Mal zu riesigem Streit
Andere Änderungen, die mein Konzept vornimmt, wie die Bewertungsmöglichkeit für Ärzte und Krankenhäuser, die Verantwortung der Kreise für Krankenhäuser oder die Vereinheitlichung der Krankenkassen, tauchen als Ideen gar nicht erst auf, da sie im bestehenden System keinerlei Sinn ergeben.
Die erste Änderung dieser Liste, die eine Verbesserung darstellt, sind mehr Studienplätze für Ärzte. Schon dieser erste Schritt kann daran scheitern, dass er zunächst einmal die Ausgaben deutlich erhöht. Wird er umgesetzt, und praktizieren jetzt mehr Ärzte, können wir die Anzahl der Vorsorgeuntersuchungen erhöhen, um das Gesamtsystem langfristig zu entlasten.
Diese Anpassungen dauern bereits viele Jahre. Danach findet sich aber keine Änderung mehr, die das Gesundheitssystem für beide Seiten besser machen würde. Alles, was es für die Bürger weiter verbessern würde, macht es teurer. Alles, was die Kosten für den Staat senken würde, verschlechtert es für die Bürger. Wir sind in einem lokalen Maximum angekommen: Keine einzelne Änderung verbessert das System. Und so sind alle dauerhaft unzufrieden damit, wie teuer und ineffizient das Gesundheitswesen ist. Mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung muss die Menge der bezahlten Leistungen immer weiter reduziert werden, was jedes Mal riesigen Streit bedeutet.
Bessere, aber völlig andere Varianten, das gesamte System aufzubauen, entdecken wir auf diese Weise nie. Ganz zu Anfang, als das gesellschaftliche System ursprünglich erdacht wurde, fehlten Voraussetzungen, solche Lösungen umsetzbar zu machen (siehe Kapitel 4.3 „Digitalisierung“), und mit schrittweisen Veränderungen, die jede für sich eine Verbesserung darstellen müssen, finden wir sie nicht.109 Das gilt für das Gesundheitswesen genauso wie für jedes gesellschaftliche System - sei es das Bildungswesen, die Stadtstruktur, Einwanderung und Asyl, das Steuersystem, der Staatsaufbau, was auch immer.
Wir sind bei der Lösungsfindung sozusagen bei den Mitteln der Evolution geblieben, die ein bestimmtes System in kleinen Schritten immer weiter perfektioniert. Für die Fortbewegung hat sie für viele Tierarten ein gut optimiertes Bein gefunden. Aber das Rad wird sie nie hervorbringen.
Der Weg, den dieses Buch beschritten hat und den ich hier noch einmal explizit darlegen möchte, ist ein anderer:
1. Ein gesellschaftliches System scheint viel Potential zu haben, besser zu funktionieren, wenn es anders wäre.
2. Es wird ein komplett neuer Aufbau für das System erdacht, ohne Rücksicht auf die bisherige Umsetzung (grüne Wiese).
3. Der neue Entwurf wird schrittweise verbessert.
4. Wiederholung ab Punkt 2 solange neue Ideen da sind, Beibehaltung des besten Ergebnisses.
5. Vergleich des besten Entwurfs mit dem bisherigen System.
6. Suche nach dem einfachsten Pfad, um zu diesem Ziel zu gelangen.
Die Punkte 1 bis 4 sind das, was ich viele Jahre für mich selbst getan habe, ohne eine Idee zu haben, wofür das gut sein könnte.
Jetzt, wo dieses Buch daraus geworden ist, und wenn ich meinen Job gut gemacht habe, dann haben seine Kapitel für die behandelten gesellschaftlichen Systeme einen anderen Punkt in der endlosen Landschaft der Möglichkeiten ausgeleuchtet. Weit weg von dem Gebiet, in welchem sich die aktuell realisierten Varianten des Systems befinden.
Selbst wenn dieses Buch nichts anderes erreichen würde, als vielen Menschen bewusst zu machen, dass es diese anderen Gebiete mit besseren Varianten gibt, wäre schon viel gewonnen.
Dieses Kapitel versucht darüber hinaus, euch alle anzuregen, weiter zu gehen: Nach schrittweisen Verbesserungen der von mir vorgestellten Varianten Ausschau zu halten und andere Gebiete nach noch besseren Varianten abzusuchen (Konsensbildung), um dann nach dem einfachsten Weg zu suchen, den so gefundenen Ort zu erreichen (Konkretisierung).
Um in diesem Bild zu bleiben, ist der zweite Schritt, Bekanntheit, dazu da, genügend Menschen zum Suchen zu bewegen, vor allem aber dafür, dass die Gesellschaft die nötige Energie aufbringt, solche Veränderungen anzugehen. Selbst, wenn man schlechteres Gebiet durchqueren muss, bevor man zum entdeckten besseren Zielpunkt gelangt.
Vor allem aber will dieses Kapitel aufzeigen, dass Zukunftsvisionen erreichbar sind, wenn eine Gesellschaft sie erreichen will. Und dass unglaublich viel Potential verschenkt wird, wenn wir uns aufgrund von antrainiertem Pessimismus darauf beschränken, die schlimmsten Dystopien zu verhindern, statt die bestmögliche Zukunft anzustreben.
Die Zukunftsvisionen dieses Buches sind nicht alle gleich einflussreich auf unser Leben und darauf, wie gut eine Gesellschaft insgesamt funktioniert. Einige, wie ein besseres Gesundheitswesen, haben zwar das Potential unser Leben deutlich zu verbessern, werden es aber nicht fundamental verändern. Ein besseres Staatswesen würde dagegen massiv verändern, wie wir leben und wie unsere Gesellschaft funktioniert. In vielen anderen Fällen ist nur schwer zu beurteilen, wie einflussreich ein besseres gesellschaftliches System wäre.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre sicher besser als das bisherige Bürokratiemonster des deutschen Sozialsystems. Aber wie viel besser? Würde es den Staat einfach nur effizienter und gerechter machen? Oder würde es zu einem großen Erblühen ehrenamtlicher Arbeit, kreativer Kunst und des Unternehmertums führen?
Würden Kulturpunkte nur die nervige Werbung im Internet beenden und die Qualität von Nachrichtenartikeln verbessern? Oder würden sie zu einer veränderten Selbstwahrnehmung der Gesellschaft führen? Zu mehr Optimismus, selbstloserem Handeln und einem Aufblühen von digitaler Kunst, die für alle frei verfügbar ist?
Würde ein besseres Bildungswesen nur zu glücklicheren Kindern führen, die in der Schule mehr Wissen lernen, das ihnen in ihrem Leben etwas nützt? Oder würde es eine Generation junger Erwachsener hervorbringen, die aufgrund ihrer besseren Bildung, Denkfähigkeit und emotionaler Sicherheit die Gesellschaft von innen heraus transformieren?
Diese Unsicherheit rührt daher, dass zwar relativ gut modellierbar ist, wie das neue System in sich funktionieren würde. Anhand des Vergleichs mit dem aktuellen System wird klar, dass der vorgeschlagene Entwurf offensichtlich besser ist. Aber es ist eben nur sehr schwer zu überblicken, wie groß seine positiven Auswirkungen auf den Rest der Gesellschaft wären.
Um die Konsensbildung zu vereinfachen und so viele Menschen wie möglich davon zu überzeugen, dass der neue Entwurf tatsächlich besser ist als das bestehende System, sollten diese erhofften, aber schwer vorhersagbaren positiven Folgeeffekte auf den Rest der Gesellschaft daher ausgeblendet werden. Stattdessen sollte der neue Entwurf für sich stehend vorgestellt und mit dem bestehenden System verglichen werden.
Das macht nicht nur die Argumentation leichter und somit hoffentlich erfolgreicher. Es ist auch die pessimistischere und somit sicherere Annahme: Selbst wenn die erhofften positiven Folgeeffekte auf den Rest der Gesellschaft nicht eintreten, haben wir dennoch ein gesellschaftliches System effizienter, gerechter, angenehmer gemacht. Vor allem die höhere Effizienz ist in jedem Fall sehr wertvoll: Sie bedeutet, dass die Gesellschaft jetzt mehr Ressourcen übrig hat, um andere Probleme anzugehen oder andere Zukunftsvisionen umzusetzen.
Mit Blick auf die Finanzierbarkeit ist es offensichtlich nicht egal, in welcher Reihenfolge die Umsetzung von Zukunftsvisionen angegangen wird. Fangen wir mit einer an, die mehr Geld kostet als bisher (Bildungswesen), müssen wir automatisch die Frage beantworten, wo das Geld dafür herkommen soll. Egal, wo wir sparen wollen, schaffen wir uns damit Gegner.
Beginnen wir dagegen mit einer Zukunftsvision, die weniger Geld kostet als bisher, weil es ein effizienteres System ist (niedriges BGE), müssen wir gegen die Ängste jener ankämpfen, die fürchten, jetzt weniger Geld zu bekommen als vorher.
Für die beste Herangehensweise halte ich es daher, Zukunftsvisionen beider Arten in einem Vorschlag (z.B. einem Parteiprogramm) zusammenzubringen: Mindestens eine Zukunftsvision, die Geld einspart (BGE, Gesundheitswesen), kombiniert mit mindestens einer Zukunftsvision, die mehr Geld kostet (Kulturpunkte, Bildungswesen, kostenloser öffentlicher Personentransport). Damit beantwortet sich auf der einen Seite die Frage, wo das nötige Geld herkommen soll. Und zum anderen kann man den Verlustängsten damit entgegentreten, was mit dem eingesparten Geld jetzt möglich wird. Natürlich wird es trotzdem Widerstand geben, wie bei allen Veränderungen. Aber es sollte die Argumentation in beide Richtungen erleichtern und in Summe vermutlich weniger Widerstand erzeugen als jede einzelne Zukunftsvision für sich (vorausgesetzt, sie sind alle in etwa gleich überzeugend).