1. Dystopischer Zukunftsblick

1.1 Geschichten

Allein in Deutschland erscheinen jedes Jahr etwa 100 000 neue Bücher. Laut Google existieren weltweit insgesamt über 100 Millionen verschiedene.

Die Menschheit ertrinkt also geradezu in gedruckten Worten. Jeder kann nur einen winzigen Bruchteil davon lesen, selbst wenn er all seine verfügbare Zeit ins Lesen investiert. Mit so vielen Büchern sollte alles zu sagende doch eigentlich schon gesagt sein, oder?

Jede Idee ausgeführt, jede Utopie*1 beschrieben, jede Dystopie* ausgemalt, jede Geschichte erzählt. Und wenn schon nicht jede, dann zumindest etwas hinreichend Ähnliches, so wie Fabeln und Märchen bestimmten Mustern folgen.

Nein, nicht einmal im Ansatz.

Versucht einmal, positive Erzählungen über die Zukunft der Menschheit zu finden! Oh ja, es gibt sie:

• „Die Kultur“, eine Science-Fiction-Reihe von Ian M. Banks, erzählt die Geschichte einer Menschheit, die sich über das Universum ausgebreitet hat und eine erfolgreiche Form der Anarchie praktiziert.

• Star Trek ist vielleicht das bekannteste Beispiel einer grundsätzlich positiven Zukunftserzählung. In dieser wird die Menschheit von einer fähigen Regierung geführt, die Probleme des Kapitalismus* sind überwunden und das Geld wurde abgeschafft. Die Besatzung der Forschungsraumschiffe kann sich daher darauf konzentrieren, die Philosophie der Föderation zu exportieren und den Aliens bei ihren Problemen zu helfen.
Natürlich war das den Produzenten auf Dauer nicht konfliktreich genug. In verschiedenen Überarbeitungen des Trek-Universums wurde die Föderation immer problembeladener, bis die ursprüngliche positive Utopie ziemlich ramponiert war. Dennoch: Ganz verloren gegangen ist die positive Grunderzählung nicht.

• In „Perry Rhodan“, einer über Jahrzehnte von einem deutschen Autorenteam über mehr als  3 000(!) Hefte geführten Science-Fiction-Reihe, eint ein junger unabhängiger Staat die Menschheit mit Technologie und der Vision einer positiven Zukunft. Mit vereinten Kräften entfaltet sich die Menschheit über Jahrhunderte in eine galaktische Zivilisation, die allen Widrigkeiten trotzt.

• Die Serie „Rationale Zukunft“, geschrieben von Wayne Edward Clarke, ist mein letztes Beispiel. In ihr sieht sich eine Menschheit, die sich nicht nur technologisch, sondern auch gesellschaftlich deutlich weiterentwickelt hat und auf uns fremd wirkt, mit neuen Gefahren konfrontiert, denen sie sich erfolgreich stellt. Hier sind wir dann aber auch schon bei einem sehr unbekannten Autor gelandet, den ich auf Umwegen entdeckt habe und von dessen Büchern es keine deutsche Übersetzung gibt.

Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig, aber die Liste solch positiver Science-Fiction ist definitiv nicht lang.

Die 2 erfolgreichsten Beispiele, Star Trek und Perry Rhodan, hatten ihre Anfänge 1966 und 1961, also vor über 50 Jahren. Heute scheinen solch positive Erzählungen nicht mehr zu entstehen. Zumindest keine, die eine größere Bekanntheit erlangen. Weil sie nicht mehr in die Zeit passen. Und doch zeigen der Erfolg von Star Trek und Perry Rhodan, dass viele Menschen solch positive Erzählungen hören wollen.

Vergleichen wir diese positiven Zukunftsbilder mit der Anzahl der Romane, die eine dystopische Zukunft zeichnen: Die Alieninvasionen, die Apokalypsen, die Kapitalismusexzesse des Cyberpunk, die vom Klimawandel* wahlweise verdorrte oder überflutete Erde, die Imperatoren, die die Macht übernehmen und jetzt von mutigen Rebellen bekämpft werden müssen.

Es leuchtet ja auch ein: In einer dystopischen Zukunft lassen sich eben viel besser spannende Geschichten erzählen. Wenn die Helden die schwere Aufgabe nicht meistern, bleibt die Menschheit geknechtet, hungernd, oder sie ist gleich dem Untergang geweiht. Das ist eben viel spannender als über jemanden zu schreiben, der keinerlei Nöte hat, in einer freien Gesellschaft lebt, und dessen Regierung frühzeitig Krisen vorbeugt und sie dadurch bereits im Keim erstickt.

Und ganz ehrlich: Vielleicht fehlt vielen Autoren auch einfach die Fantasie für eine solch positive Zukunft. Eine düstere Zukunft ist einfach herbeizuschreiben: Man nehme eine Welt, in der kein Regen mehr fällt, oder in der nur noch Konzerne entscheiden was passiert. Zack – düstere Zukunft ist da.

Eine positive Zukunft dagegen: Da bräuchte es doch so viele Dinge, die sich zum Guten wenden müssten! Das müsste man sich dann ja alles erst einmal überlegen und dem Leser glaubhaft rüberbringen, bevor man sich der eigentlichen Geschichte zuwenden kann, die man erzählen möchte. Wenn einem für solch eine harmonische Zukunft dann überhaupt eine fesselnde Geschichte einfällt...

Hat Science-Fiction* uns also pessimistischer darin werden lassen, wie wir auf die Zukunft blicken?

Ich denke schon. All die Bücher die man liest hinterlassen natürlich Spuren. All die Visionen, die man durch sie kennenlernt, formen eine Erwartung, einen Raum der Möglichkeiten, die man in Betracht zieht. Wenn jede Zukunft, über die man je gelesen hat, von Krieg, Dürre, Krankheit oder brutalen Konzernen bestimmt wird, warum sollte das dann nicht auch die Erwartungshaltung sein, die man an die Zukunft hat?

Es gibt Science-Fiction ja auch noch nicht so wahnsinnig lange. Die ganze Annahme, dass die Zukunft anders sein wird als es die Gegenwart ist, ist noch ziemlich jung. Bis hinein ins Mittelalter war die Technologie, die ein alter Mensch erlebt hat, kaum anders als die Technologie in seiner Jugend. Technologische Veränderungen geschahen so langsam und graduell, dass sie sich im Laufe von Jahrhunderten abspielten, kaum wahrnehmbar für ein kurzes Menschenleben.

Aber Zukunftsromane sind nicht das Einzige was uns einen negativen Blick auf die Zukunft gibt, noch nicht einmal das Wichtigste. Schließlich liest ja nicht jeder Science-Fiction. Aber fast jeder sieht die Gegenwart weit schlechter als sie wirklich ist und erwartet weitere Verschlechterungen für die Zukunft. Warum?

Äh, Moment, aber die Gegenwart ist doch so schlecht!? All die Kriege, all das Leid, die verhungernden Kinder, die Korruption, all die Morde und Unfälle, es ist eine schier endlose Liste!

Es stimmt schon: Die Zahl der schlechten Nachrichten, die wir Tag um Tag konsumieren, die ist tatsächlich schier endlos lang. Aber werfen wir einmal einen Blick auf ein paar Statistiken über Leid:

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[1], CC BY-SA 4.0 Lizenz2, Beschriftungen verschoben, Farbanpassung

Veränderung über die letzten knapp 200 Jahre (zwischen 1820 und 2019):

 

So viele Menschen ...

1820

2019

Armut

leben in extremer Armut

84%

9%

Schulbildung

haben eine Schule besucht

17%

86%

Lesen und Schreiben

können lesen

12%

86%

Demokratie

leben in einer Demokratie

1%

56%

Impfungen

haben die wichtigsten Impfungen erhalten

0%

86%

Kindersterblichkeit

sterben bevor sie 5 Jahre alt werden

43%

4%

Wie man an diesen Graphen und Zahlen erkennen kann, hat sich in den letzten 200 Jahren (seit 1820) die Bildung massiv verbessert, sind Armut und Kindersterblichkeit massiv gesunken! Ganz ehrlich: Wusstest du das? Hättest du es erwartet?

Oder denken wir an den Bereich der Technologie: Wenn jedes neue Gerät auch seine Schattenseiten hat, wer möchte ernsthaft sein Smartphone, das Internet, seine Kaffeemaschine oder sein WC vermissen? Glühbirnen, oder LEDs?

All diese Erfindungen sind nicht wahnsinnig alt. Das erste Patent auf eine Glühbirne wurde 1841 erteilt: Das ist noch keine 200 Jahre her!

Kurz gesagt: Die materielle Welt, die Umstände in denen wir als Menschen leben, haben sich in den letzten 200 Jahren objektiv massiv verbessert. Und zwar nicht in Wellen, sondern durchgehend. Jedes Jahrzehnt besser als das davor, mit kleinen Dellen für die beiden Weltkriege.

Und dennoch haben wir alle das Gefühl, alles würde beständig schlechter werden. Und dieses Gefühl haben wir mindestens seit Jahrzehnten.