12. Mit wem wir leben

12.1 Kleinfamilien und Kommunen

Man kann das letzte Teilkapitel auch eine Utopie des Denkens nennen.
Es war aber keine Idee für eine neue Gesellschaftsordnung, keine Zukunftsvision im Sinne dieses Buches. Es hätte keinerlei Sinn ergeben, über ihre Kosten oder ihre Robustheit gegen Widrigkeiten zu sprechen. Es gab daher auch keinen Anforderungsabgleich am Ende des Kapitels.
Dafür war es aber etwas, das man als Einzelner umsetzen kann. Im Gegensatz zu den Zukunftsvisionen dieses Buches, die ja eine ganze Gesellschaft benötigen, um Realität werden zu können. Bevor wir uns im nächsten und letzten Kapitel ansehen, wie ein solcher Stein tatsächlich ins Rollen kommen könnte, geht es in diesem Kapitel um eine Zukunftsvision, die in kleinerem Rahmen als dem einer Gesellschaft umsetzbar ist.

Sehen wir uns einmal die Gliederungsebenen unserer Gesellschaft an (unter Berücksichtigung der bisher vorgestellten Zukunftsvisionen):

1. Gesellschaft oder Staat: Die größte Einheit oder das größte System, das nach bestimmten Gesetzen und kulturellen Regeln funktioniert.

2. Gemeinschaft: In meinem Konzept des Staates (10. Kapitel) eingezogene Zwischenschicht, auf welcher sich der Großteil gesellschaftlicher Systeme verschieden umsetzen lässt.

3. Stadt/Dorf: Eine räumliche Infrastruktureinheit. Das Gebiet, dessen Infrastruktur (Geschäfte, Kindergärten, Kultur- und Sporteinrichtungen) im täglichen Leben genutzt wird.

4. Nachbarschaft/Dorfgemeinschaft: Gruppe aller Menschen, die in einem räumlich abgegrenzten kleinen Gebiet wohnen. Klein genug, dass man Gesichter und Namen der anderen kennt und sich grüßt. Setzt Normen durch sozialen Druck durch, statt mittels formaler Regeln und Strafen. Bietet ein Sicherheits- und Unterstützungsnetz für ihre Mitglieder.

5. Kleinfamilie: Die zusammen lebende, wirtschaftende und Kinder groß ziehende Lebensgemeinschaft. Zwei Erwachsene und ihre Kinder.

6. Mensch: Eine einzelne Person.

Zwischenebenen wie „Gemeinde“, „Kreis“ und „Bundesland“ habe ich hierbei ausgelassen, da sie für mich fundamental zur Ebene „Staat“ gehören. Jede der aufgelisteten Ebenen hat eine grundsätzlich andere Organisationsweise und Rolle, jede bietet dem Einzelnen auf andere Weise Arbeitsteilung und Unterstützung (in Gegenleistung für Regeln, an welche sich ihre Mitglieder halten müssen).

Für jede dieser Ebenen habe ich in den Zukunftsvisionen dieses Buches Veränderungen vorgeschlagen. Dem Staat als Ganzes habe ich ein langes Kapitel gewidmet und in diesem die Idee der Gemeinschaften (in dieser Bedeutung) erst vorgestellt. Im Kapitel „Wohnen“ habe ich gezeigt, wie in Hochhäusern flexible Nachbarschaften entstehen können. Im gleichen Kapitel habe ich auch die Zukunftsvision einer grüneren Stadt vorgestellt. Im 7. Kapitel „Bildung“ ging es darum, wie man Menschen besser mit Wissen und Fähigkeiten für unsere immer komplexere Welt ausstatten kann. Und im letzten Kapitel „Wonach wir streben“ um eine für unsere komplexe Welt besser geeignete Denkweise, die dann auch in der Schule vermittelt werden könnte.

Nur zu einer der Organisationsebenen habe ich in diesem Buch noch kein Wort verloren: der Kleinfamilie.

Obwohl, so ganz stimmt es nicht: Im letzten Kapitel hatte ich den Verlust der Großfamilien (und ihre Ersetzung durch Kleinfamilien), aufgrund der Industrialisierung und Verstädterung, als einen der Entstehungsgründe des Kommunismus aufgezählt. Historisch gesehen ist es also etwas ziemlich Neues, dass die meisten Menschen in Kleinfamilien leben (oder Single sind). Und die Umstellung darauf hat wirtschaftliche Probleme mit sich gebracht, da die Kleinfamilie kein so engmaschiges Sicherheitsnetz bieten kann, wie es die Großfamilie zuvor getan hat.

Nun haben sich die wirtschaftlichen Probleme in unseren reichen westlichen Gesellschaften weitgehend erledigt. Wer entweder arbeitet oder vom engmaschigen staatlichen Sicherheitsnetz aufgefangen wird, der hat in einem westlichen Industrieland genug Geld zum Leben. Es war ja auch genau diese Umwälzung von Groß- zu Kleinfamilien (und die Gefahr des Kommunismus), die zur Entstehung der sozialen Sicherungsnetze geführt hat. Der Staat hat also einen Teil der Aufgaben übernommen, welche vorher von Großfamilie und Dorfgemeinschaft wahrgenommen wurden.

Die Kleinfamilie ist also nicht die einzig mögliche Organisationsform des Zusammenlebens. Sie hat definitiv auch Nachteile. Neben dem bereits angesprochen Sicherheitsnetz zählt dazu auch die zunehmende Vereinsamung in unserer Gesellschaft. Diese ist, neben dem Wegfall der Dorfgemeinschaften, eben auch dem Rückzug von der Groß- zur Kleinfamilie geschuldet. Was ist, wenn der Partner stirbt und die Kinder ausgezogen sind? Plötzlich ist man allein. Was ist, wenn man sich trennt, was ja immer häufiger passiert? Was ist, wenn man zusammen bleibt, aber mit seinem Partner immer weniger redet?
Der Mensch hat in seiner Evolution stets in kleinen sozialen Gruppen gelebt. Die Kleinfamilie ist heute alles, was davon übrig geblieben ist. Und mit nur zwei erwachsenen Personen ist sie ein sehr fragiles Gebilde. Wenn einer der beiden ausfällt, ist der andere auf sich allein gestellt. Wenn einer der beiden Hilfe braucht, gibt es nur einen Erwachsenen in der Gruppe, der helfen kann. Dass der anonyme Staat diesen Wegfall nur unbefriedigend kompensieren kann, ist sehr offensichtlich (Beispiel Alter oder Krankheit: Pflegeheim versus wohnen bei Angehörigen).

Aufgrund ihrer geringen Größe kann die Kleinfamilie einen wichtigen Vorteil nur wenig nutzen, den wir Menschen uns im Laufe der kulturellen Evolution immer stärker erarbeitet haben: der Spezialisierung. Städte und Staaten sind genau deshalb so erfolgreich, weil nicht mehr jeder alles selbst machen muss.
Ich kaufe Essen und Kleidung ein, statt es selbst anzubauen und zu nähen. Ich zahle monatlich Miete, statt mit eigenen Händen mein eigenes Haus zu bauen. Ich rufe den Handwerker, wenn in meiner Wohnung etwas nicht funktioniert. Ich hole mir Hilfe, um Computerprobleme zu beheben. Und gehe zum Arzt, wenn ich krank bin.
Natürlich kann ich jedes dieser Dinge nach wie vor selbst tun: Ich kann mein eigenes Essen anbauen oder mir eigene Kleidung nähen. Viele können ihre Computerprobleme selbst beheben, und manche bauen ihr eigenes Haus oder halten die eigenen vier Wände mit eigenen Reparaturen in Schuss. Aber die meisten machen nur einen Teil dieser und ähnlicher Aufgaben alleine, nicht alle. Die Zeit der Universalgenies ist lange vorbei, dafür ist unsere Welt einfach zu komplex und zu kompliziert geworden.

Bevor es diese Spezialisierung in Form von Städten und Staaten gab, wurde so gut wie alles innerhalb der zusammen lebenden und wirtschaftenden Gruppe hergestellt. Aufgabenteilung durch Spezialisierung ist etwas, was durch die zunehmende Komplexität der Welt immer stärker nötig ist. Die Kleinfamilie kann dabei nur wenig helfen.

Es gab und gibt ja durchaus, auch in unserer modernen Zeit, andere Formen des Zusammenlebens als die Klein- oder Großfamilie: von den Wohngemeinschaften (WGs) während der Studentenzeit über die Kommunen* der 68er Revolution bis zum Mehrgenerationenhaus. Bisher sind das aber alles entweder Übergangslösungen geblieben (WGs) oder vereinzelte Experimente.

So, wie man das Bildungswesen oder die Strukturierung des Wohnraums als gesellschaftliches System ansehen kann, gilt das auch für die Form des Zusammenlebens. Und genauso, wie ich für Bildungswesen und Wohnraum auf der grünen Wiese neue Zukunftsvisionen gezeichnet habe, ohne Rücksicht darauf, wie es bisher funktioniert, wäre dies auch für die Form des Zusammenlebens möglich. Habe ich also eine Idee, wie man anders zusammenleben könnte als in der Kleinfamilie und anders als historische oder aktuell bekannte Alternativen?

Ja, habe ich.

Wie die Idee von Containerwohnungen und Containerhäusern mit Nachbarschaften, hat auch die in diesem Kapitel vorgestellte Zukunftsvision des Zusammenlebens den großen Vorteil, eine Möglichkeit zu sein. Wer in der Kleinfamilie oder als Single glücklich ist, muss nichts anders machen als bisher, auch nicht, wenn das hier Beschriebene Wirklichkeit werden sollte. Das hier ist keine Zukunftsvision, welche die Gesellschaft als Ganzes übernehmen muss, damit sie funktioniert.

Meine Hoffnung ist, durch die Beschreibung in diesem Kapitel eine Idee in die Welt zu setzen. Was Menschen, denen sie gefällt, eine gemeinsame Sprache gibt, darüber reden zu können. Es gibt ihnen eine Blaupause zur Umsetzung und eröffnet dadurch erst die Chance, dass so etwas tatsächlich entstehen kann.

 

Bei den bekannten alternativen Formen des Zusammenlebens sehe ich entweder das Problem, dass sie zu lose sind, um ein verlässliches Sicherheitsnetz und Gefühl der Geborgenheit bieten zu können (WG, Mehrgenerationenhaus), oder dass sie eine Liebesbeziehung aller Erwachsener voraussetzen, was schwer herbeizuführen und mit zunehmender Gruppengröße immer fragiler wird (Polyamorie).
Bleiben noch die Kommunen, in denen es darum geht, in größerer Gruppe zusammen zu leben und zu wirtschaften. Sie kommen dem am nächsten, was mir vorschwebt.

Nach allem, was ich sehe, sind Kommunen normalerweise sehr stark ideologisch ausgerichtet. Zum Beispiel mit dem Ziel, das eigene Essen selbst anzubauen, ein gemeinsames politisches Ziel zu erreichen oder so ökologisch wie nur möglich zu leben. Und es ist ja auch richtig, dass jede gemeinsam lebende Gruppe etwas braucht, was sie zusammenbringt und dann zusammenhält - einen gemeinsamen Kern. Bei Kommunen scheint das eine gemeinsame Ideologie oder ein gemeinsames Ziel zu sein. Sei es Anarchie, Kommunismus, Ökologie oder der jüdische Glaube (Kibbuz).

Für die Kleinfamilie ist es dagegen einfach die Liebe der beiden Erwachsenen, die sie zusammengebracht hat. Und Kompatibilität, die sie zusammenhält. Natürlich kann auch eine Kleinfamilie ein gemeinsames konkretes Ziel haben. Zum Beispiel so gut wie möglich Tischtennis zu spielen oder die bestehende politische Ordnung umzustürzen. Aber es ist eben keine Voraussetzung dafür, eine Kleinfamilie zu gründen.
Das ist der erste Fokuswechsel im Vergleich zu Kommunen, der mir vorschwebt: Ich möchte nicht, dass sich die Gruppe aufgrund eines konkreten Ziels zusammenfindet, das sie erreichen möchte – genauso wenig, wie eine Kleinfamilie das tut. Sondern dass stattdessen neben der gemeinsam gewünschten Lebensform die Kompatibilität und Synergie der Mitglieder ausschlaggebend ist.

Natürlich braucht es dennoch einen gemeinsamen Kern, der die Gruppe zusammenführt und zusammenhält. Ich denke, ein gleicher Grundwert ist hierfür ausreichend. Das kann so etwas wie Reichtum oder Glück sein, oder die im vorhergehenden Kapitel vorgestellte „Entfaltung“. „Entfaltung“ hat dabei den großen Vorteil, dass die Gruppenmitglieder bereits aufgrund dieses Grundziels Kooperation statt Wettbewerb anstreben. Ein von allen geteiltes Wertesystem, welches auch immer es ist, gibt der Gruppe eine gemeinsame Gesprächsbasis, um bei Konflikten einvernehmliche Lösungen zu finden. Es ist sicher nicht für alle Personenkonstellationen notwendig, aber es hilft ungemein - umso mehr natürlich, wenn der gemeinsame Grundwert Kooperation begünstigt.

Viele Kommunen sind recht groß. Im Wikipediaartikel[62] ist zum Beispiel von Landkommunen mit 10 bis 30 Personen die Rede und vom Beispiel „Gemeinschaft Tempelhof“ mit etwa 150 Mitgliedern. Ich bin mir sicher, dass es in Kommunen solcher Größe zur Gruppenbildung innerhalb der Kommune kommt. Von Menschen, die sich besonders gut verstehen und viel zusammen machen.
Das widerspricht der Rolle, welche die von mir erdachte Gruppenform füllen soll. Es soll die innerste soziale Gruppe sein, der ein Mitglied angehört. In ihr soll sich jeder mit jedem gut verstehen, jeden gut kennen, Vertrauen zueinander haben. Dieses Ziel ist für eine Gruppe von 30 Personen nicht erreichbar, geschweige denn für 150.

Für Kommunen ist der Ort normalerweise ein wesentlicher Teil dessen, was ihr jeweiliges Konzept ausmacht. Ein Haus, das man gemeinsam besetzt hat; ein Bauerngut, welches man zusammen bewirtschaftet; oder ein Betrieb, den man zusammen führt, um Einnahmen zu erzielen. All dies führt zu unterschiedlichen Arten von Kommunen, mit anderen Konzepten und Zielen. Auch dies wieder völlig logisch, da es der Gruppe einen gemeinsamen Halt und einen gemeinsamen Sinn gibt. Aber auch wieder im Gegensatz zur Kleinfamilie, die ja gerade nicht von der konkreten Wohnung abhängt, in welcher sie zurzeit wohnt.
Auch hier möchte ich in meiner Idee den Fokus weg vom konkreten Ort und hin zur Gruppe lenken. Ob sie in einem Haus, einem Bauernhof oder einfach in einer großen Stadtwohnung lebt, sollte für die grundlegende Organisationsform keinen Unterschied machen. Natürlich wird es mit zunehmender Gruppengröße immer schwerer werden, einen Umzug in eine andere Stadt zu realisieren, wofür sich alle Mitglieder neue Arbeitsstellen suchen müssten. Dieser Effekt wird nicht vermeidbar sein.

Ich habe hoffentlich aufgezeigt, dass ich nicht einfach nur die Idee der Kommune mit eigenen Worten beschreiben möchte, sondern tatsächlich ein anderes Ziel anstrebe. Was schwebt mir also vor?