11. Wonach wir streben
11.1 Einleitung
Man könnte zwischen dem 4. Kapitel „Allgemeines“ und dem 10. Kapitel „Staat“ problemlos noch weitere Zukunftsvisionen hinzufügen: Polizei, Rechtswesen, Pflege, Katastrophenschutz, Steuersystem, ...
Es gibt so viele Bereiche, für welche man auf der grünen Wiese eine komplett neu gedachte Zukunftsvision entwerfen könnte. Ich habe in diesem Buch Zukunftsvisionen für die Bereiche vorgestellt, die mir als besonders wichtig erscheinen, und für welche ich daher im Laufe der Jahre Ideen entwickelt habe. Meinen Entwurf einer möglichen guten Zukunft.
Vielleicht können die von mir vorgestellten Ideen ja anderen als Inspiration dienen, nach ähnlichen Kriterien ihre eigenen, positiven Zukunftsvisionen anderer Bereiche zu entwerfen und mit der Welt zu teilen. Oder andere, noch bessere Utopien für die in diesem Buch vorgestellten Bereiche.
Wir werden uns zum Abschluss dieses Buches, im Kapitel 13 „Wie wir beginnen“, ansehen, auf welchen verschiedenen Wegen es zu dem Punkt kommen könnte, dass eine Gesellschaft eine in diesem Buch entworfene (oder irgend eine andere radikal neue) Zukunftsvision tatsächlich umsetzt. Doch bevor wir dazu kommen, treten wir zunächst noch einmal einen Schritt zurück von den konkreten Ideen, wie man die Welt verbessern könnte.
Ich möchte mich in diesem Kapitel mit der grundsätzlichen Frage beschäftigen, wonach jeder Einzelne von uns, und wonach wir als Gesellschaft, eigentlich streben.
Einmal historisch und aktuell, und dann nach vorne gerichtet. Denn wenn wir für die Zukunft ein Ziel finden könnten, das wir alle als erstrebenswert ansehen, dann hätten wir damit etwas, an dem wir Zukunftsvisionen messen können.
Das ist etwas, über das ich bisher nicht gesprochen habe: Ich habe viel darüber geschrieben, wie meine Zukunftsvisionen aussehen und funktionieren würden. Warum sie möglich, finanzierbar, widerstandsfähig wären. Ich habe erklärt, was ich mir von ihnen erhoffe (zum Beispiel bessere Chancen für ärmere Kinder oder ausgewogenere Berichterstattung der Medien). Aber ich habe nicht darüber gesprochen, was das Grundziel all dieser Zukunftsvisionen eigentlich ist.
Wenn ich eine Zukunftsvision mit einer anderen vergleiche, anhand welchen Maßstabes entscheide ich, welche der beiden die bessere ist? Wenn ich aufgrund mangelnder Ressourcen nicht alles umsetzen kann (z.B. Kosten im Gesundheitswesen) oder sich in einer Zukunftsvision verschiedene Ziele widersprechen, anhand welchen Kriteriums entscheide ich?
Diesen Kern, aus dem Entscheidungen entstehen, kann man „Wertesystem“ nennen, „Grundwert“, „Grundziel“, „Zielfunktion“ oder auch „das, wonach man strebt“. Je nachdem, ob man sich dem Thema aus Richtung der Philosophie („Wertesystem“), der künstlichen Intelligenz („Zielfunktion“) oder der Alltagspsychologie („Wonach strebe ich?“) nähert.
Weswegen habe ich in meinen Zukunftsvisionen versucht, Chancengleichheit, Bildung, gesundes Leben, ausgewogene Berichterstattung und Meinungsfreiheit zu fördern? Welcher gemeinsame Kern liegt diesen Zielen zugrunde?
Sich damit zu beschäftigen ist beileibe kein rein theoretisches Thema: Wenn wieder einmal öffentlich darüber debattiert wird, wie gut Kinder vor Sex und Gewalt in den Medien geschützt werden sollen, dann geht es implizit um genau diese Frage. Welcher von zwei Werten ist uns wichtiger, Pressefreiheit oder die Behütung von Kindern? Und wie wägen wir diese gegeneinander ab?
Wenn ich mein Wertesystem in diesem Kapitel darlege, dann also einerseits, um ein Verständnis dafür zu geben, auf welcher Basis die Zukunftsvisionen dieses Buches entstanden sind.
Andererseits ist diese Erklärung aber auch dafür wichtig, den Zukunftsvisionen eine bessere Chance auf Realisierung zu geben.
Im Kapitel 7 „Bildungswesen“ hatte ich geschrieben: „... dass sie [die Lehrer] alle auch in der Lage sind, Kinder in ihrer Entwicklung zu reifen Menschen gut zu unterstützen. Das bedeutet neben ausreichendem Wissen über Psychologie vor allem, dass sie die in Kapitel 11.5 (‚Entfaltung‘) erläuterte Weltanschauung verinnerlicht haben.“ Ein gemeinsames Wertesystem zu haben, welches vermittelt wird, ist also Teil der von mir vorgestellten Zukunftsvision eines besseren Bildungswesens.
Im Kapitel 1 „Dystopischer Zukunftsblick“ hatte ich als Beispiel für einen negativen Blick auf die Zukunft über die Anti-Atomkraft-Bewegung geschrieben. Ich hatte beschrieben, welches Problem es für alle Nachfolgeorganisationen geworden ist, dass dieser einende Kern lediglich umfasst wogegen, nicht aber, wofür man ist: „All diese positiven Konzepte sind eben nicht Teil des Ideals, nicht Teil des Zukunftsbildes, das die Anti-Atomkraft-Bewegung zu Beginn gemeinsam entworfen hat.“ Egal, wie man die Umsetzung einer Zukunftsvision oder jegliche Änderung der aktuellen Systeme auch angehen will: Man wird sich Mitstreiter suchen, diskutieren, sich auf etwas einigen und dann etwas tun.
Und das, worauf man sich einigt, wird der gemeinsame, einende Kern dieser Organisation oder Bewegung werden. Scheitert das Unterfangen, dann ist es egal, wie klein oder groß diese gemeinsame Basis war. Aber wir wollen ja nicht für das Scheitern planen, sondern für den Erfolg! Und Erfolg führt zu neuen Zielen. Spätestens wenn über neue Ziele gesprochen wird, ist es sehr entscheidend, auf welcher gemeinsamen Basis man sich ursprünglich zusammengefunden hat.
Meine Hoffnung ist, dass dieses Kapitel dabei hilft, diese gemeinsame Basis größer zu machen.
Ein großer Vorteil ist ein gemeinsames Wertesystem auch für die Umsetzung der im vorherigen Kapitel vorgestellten Zukunftsvision eines Staatswesens. Der von mir vorgestellte Staat mag wandelbarer sein als die bisherigen, mit mehr Freiraum für die Bürger, ihr Leben so zu leben wie sie es möchten. Dennoch profitiert er enorm von einer gemeinsamen Wertebasis, auf die sich die meisten seiner Bürger einigen können. Eine Grundlage für die Zentralgesetze und für die Entwicklung von Bräuchen und Gepflogenheiten. Ein gemeinsamer Blick auf die Wirklichkeit, der sinnvolle Diskussionen erst ermöglicht und eine konstruktive Zusammenarbeit der Bürger und der Gemeinschaften viel leichter macht.