2. Beschleunigender Fortschritt

2.3 Fortschritt und der Mensch

Nun haben wir an diesen Grafiken gesehen, dass der Fortschritt nicht nur immer weiter geht, sondern dass er als Exponentialfunktion wächst, sich das Tempo der Veränderung also immer weiter erhöht.

Wird auch das so bleiben, solange noch viel technischer Fortschritt möglich ist? Denn wie wir zu Beginn des Kapitels gesehen haben: Exponentialfunktionen sind gefährlich. Solange sie an keine Grenze stoßen, erreichen ihre Werte sehr schnell Zahlen, die die menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Und wenn wir uns das Tempo des Fortschritts nicht einmal vorstellen können, wie sollen wir dann als Menschen mit unserem eigenen Fortschritt mithalten können?

Im Mittelalter, als die Fortschrittskurve noch flacher war und die Technologie sich innerhalb eines Menschenlebens nur unmerklich verbessert hat, war das kein Problem. Heute dagegen überfordert das Tempo des Fortschritts bereits viele, vor allem viele ältere Menschen. Sie beherrschen die Technologien gut, die in ihrer Jugend neu waren: Mikrowellen, Batterien und Taschenrechner. Dinge neueren Datums, wie Computer, Smartphones und DVD-Player sind ihnen aber schon zu kompliziert. Ganz zu schweigen von Erfindungen, die aktuell dabei sind die Welt zu verändern, wie KIs*, die Blockchain* oder 3D-Druck.

Man sollte also meinen, dass dies in Zukunft ein starker Bremsklotz für den Fortschritt sein wird: das Tempo, in dem die Menschen in der Lage sind, neue Technologien zu begreifen und mit ihnen umzugehen.

Aber wird das Tempo des Fortschritts tatsächlich dadurch limitiert werden und bleiben? Was treibt das Tempo des Fortschritts überhaupt so stark an?
Wenn wir diese Kräfte kennen, können wir auch Vermutungen anstellen, ob und wie das Tempo doch weiter zunehmen könnte, obwohl der Mensch damit Probleme hat.

Fortschritt wird angetrieben durch Wettbewerb, durch den Vorteil, bessere Werkzeuge zu haben als die Konkurrenz. Und Wettbewerb ist etwas, das mit dem Leben automatisch mit entsteht. Evolution ist die Durchsetzung der fittesten Organismen. Und der gleiche Wettbewerb besteht zwischen menschlichen Gesellschaften, zwischen Staaten, Religionen, Firmen. Eine Gesellschaft oder Gruppe, die schnelleren Fortschritt erzielt und somit bessere Werkzeuge hat, setzt sich durch. Weil sie mehr Ressourcen produzieren kann, weil sie die besseren Waffen hat, weil ihre Kommunikation und Organisation besser ist. Das ist der Grund dafür, warum die Länder so erfolgreich waren, in denen sich die Aufklärung durchgesetzt hat und von denen die wissenschaftliche Revolution ausgegangen ist.

Ein Beispiel für den Erfolg wissenschaftlich fortschrittlicherer Länder ist der Opiumkrieg Großbritanniens gegen das Chinesische Kaiserreich (1839-1842). Großbritannien hatte viel weniger Männer unter Waffen als China, aber dafür weit überlegenes Kriegsgerät. Dadurch konnte es China einen Frieden zu seinen Bedingungen aufzwingen und die Kontrolle über den chinesischen Außenhandel übernehmen (um Opium verkaufen zu können...).

Wenn einzelne Gruppen oder Gesellschaften also einen Weg finden, mit einem höheren Tempo an Fortschritt zurechtzukommen, dann haben sie dadurch einen Vorteil, der es ihnen erlaubt, den anderen davonzuziehen. Und sobald dieser Effekt offensichtlich ist, gibt es starke Nachahmereffekte anderer Gruppen, um nicht abgehängt zu werden.

Welche Wege könnten Gruppen also finden?

Bessere und lebenslange Bildung ist ein offensichtlicher Punkt, der von vielen Ländern heute bereits priorisiert wird.
Die Nutzung der Technologie kann so simpel wie möglich gestaltet werden. Ein Konzept, das beispielsweise Apple als Kern seiner Markenstrategie pflegt. Die Steigerung davon ist „unsichtbare Technologie“, wie beispielsweise in Kleidung eingebaute Sensoren. Solange man es nicht weiß, bemerkt man gar nichts von der Technologie. Folglich muss man auch nicht lernen, mit ihr umzugehen.
Eine andere Art zu denken könnte sehr hilfreich sein. Denn immer schnellere Veränderungen sind ein enormer Stressfaktor für die Menschen. Stress bewirkt ein schnelleres und instinktives Handeln (durch Adrenalin getrieben). Aber Instinkte helfen nicht dabei sich neues Wissen anzueignen oder seine Sicht auf die Welt anzupassen. Sie würden eher nützen, um sich gegen angreifende Raubtiere zu verteidigen. In einer sich immer schneller verändernden Welt führt eine andere Einstellung gegenüber Neuem zu einem besseren Leben. Wie diese veränderte Einstellung aussehen könnte, und ganz allgemein mit dem Denken der Menschen, werden wir uns im 11. Kapitel beschäftigen.

Und dann ist da noch alles, was die mentalen Fähigkeiten der Menschen verbessert und sie dadurch Technologie schneller begreifen lässt. So genannte „Brain Augments“. Das prosaischste Beispiel dafür ist das Smartphone.
Während man eine Information in einem Buch erst zeitaufwendig suchen muss (und vorher das richtige Buch...), und man auch zu einem Computer erst einmal hingehen und ihn hochfahren muss bevor man eine Websuche starten kann, zieht man ein Smartphone einfach nur aus der Hosentasche, aktiviert den Bildschirm und kann loslegen. Wenn man einen Fakt wissen will, egal wann und wo, kann man so innerhalb von nur Sekunden eine Antwort erhalten.

Es gibt Experimente die zeigen, dass sich Leute nicht mehr erinnern konnten, dass sie eine Information auf dem Smartphone erst nachgesehen hatten. Der Prozess des Nachschlagens von Wissen ist schnell und reibungslos genug, dass er nicht mehr als eigene Aktion erinnert wird.

Es ist bereits jetzt gut absehbar, dass es weitere große Fortschritte darin geben wird, wie schnell und reibungslos solche Fragen gestellt werden können und wie gut die Qualität der Antworten ist.

Die Art und Weise, wie wir Fragen stellen, wird sich von Suchbegriffen über Spracherkennung mit Kontextbeachtung hin zu einem bloßen Denken der Fragen an den Computer entwickeln - mittels eines Geräts, dass die Aktivitätsmuster des Gehirns mitlesen kann und auf das spezifische Gehirn angelernt wurde.[12] Dadurch wird das Eingabetempo in Richtung des Computers deutlich gesteigert.

Auf der Ausgabeseite wird die fortschreitende Miniaturisierung von Chips, Akkus und anderer elektronischer Komponenten dazu führen, dass in einigen Jahren Brillen die Rolle von Smartphones übernehmen. Diese Brillen werden Bilder auf die Brillengläser oder direkt auf die Augen projizieren. Mit Tonausgabe (In-Ear-Kopfhörer, oder Tonübertragung über die Schädelknochen), Mikrofon, und Kameras, die die Umgebung filmen und beispielsweise die Hände erkennen, um auch sie für die Eingabe nutzbar zu machen. Ausgaben werden nicht nur auf einen virtuellen Bildschirm projiziert, sondern auch sinnvoll mit dem vermischt werden, was in der realen Umgebung zu sehen ist. Zum Beispiel ein virtuell projiziertes Spiel auf einen realen Tisch (Augmented Reality, kurz AR*).

Und die Fragen werden auch nicht mehr einfach an eine Suchmaschine gestellt. Stattdessen wird es eine neue Art von Software dafür geben: personalisierte virtuelle Assistenten. Künstliche Intelligenzen, kurz KIs. Sie werden eine Menge der Daten erhalten, welche die Brille über die Umgebung des Nutzers sammelt. Mit diesen Daten, und dem Wissen, das sie über ihren Nutzer haben (früher gestellte Fragen, Persönlichkeit, Hobbys, ...), werden sie sehr gut darin sein, Fragen im richtigen Kontext zu beantworten, Anforderungen zu antizipieren und Antworten in der nützlichsten und schnellsten Form zurück zu geben. Hier machen KIs Jahr um Jahr rasante Fortschritte.[13], [14]

Hier jetzt ein Beispiel, wie diese Fähigkeiten zusammenarbeiten könnten, um dabei zu helfen, Neues schneller zu begreifen.

Jemand steht vor einem technischen Gerät das er nicht bedienen kann.
Früher hätte er die Bedienungsanleitung gelesen. Heute kann er sich auf dem Smartphone ein YouTube Video ansehen, das die Benutzung vorführt.

In der skizzierten Zukunft wird er den KI-Assistenten in seiner AR-Brille fragen. Dieser sieht das Gerät, kann vorhersagen, was der Nutzer tatsächlich erreichen will, blendet die Anweisungen direkt am Gerät ein, kann Schritt um Schritt anleiten, während der Nutzer die nötigen Aktionen durchführt, und korrigierend eingreifen, falls der Nutzer eine Anweisung missversteht (die KI sieht ja, was der Nutzer tut). In Summe wird dieses Vorgehen so reibungslos sein, dass sich der Nutzer nachher nicht mehr daran erinnern können wird, dass er das Gerät vorher noch nicht bedienen konnte und Unterstützung benötigt hat, um es zu erlernen.

Alles in allem gehe ich also davon aus, dass die Menschen Wege finden werden - die soeben beschriebenen, aber sicher auch andere - mit auch weit schnellerem Fortschritt noch mitzuhalten.

Technischer Fortschritt formt die Welt, in der wir leben. Und die Frage des begrenzenden Faktors ist noch offen. Versuchen wir daher, der kommenden Entwicklung und ihrer stetigen Beschleunigung noch etwas weiter zu folgen.