2. Beschleunigender Fortschritt

2.1 Exponentialfunktionen

Anstatt jetzt sofort anzufangen, neue Ideen zu entwerfen, möchte ich zunächst über die zu erwartende Zukunft schreiben. Ohne pessimistische Verzerrung, aber auch ohne rosarote Brille.
Ich will damit das Umfeld abstecken, in welchem sich die Ideen bewegen, welche ich später in diesem Buch vorstelle.
Die Möglichkeiten, die uns die Zukunft bietet, und die Herausforderungen, vor die sie uns stellt, sind der Kontext, in dem ich neue gesellschaftliche Strukturen entwerfe. Ohne diesen Kontext zu kennen, wäre jeder Entwurf blind, ohne zu wissen, ob er in einer sich wandelnden Welt bestehen kann oder nicht.
Erst wenn wir von der Zukunft eine brauchbare Vorstellung haben, können wir uns auf die Suche nach funktionierenden Utopien begeben.

Ich habe im 1. Kapitel dargelegt, dass unsere Erwartungshaltung an die Zukunft viel zu düster ist. Aber was sollten wir stattdessen von ihr erwarten?

Die Zukunft wird so anders, dass sich die Reise dahin wie die Erforschung einer fremden Welt anfühlen wird.
Um auch nur eine Chance zu haben, sie zu verstehen, müssen wir zunächst begreifen, wie sich Exponentialfunktionen verhalten.

Warum? Weil einige sehr wichtige Prozesse, die das Ökosystem Erde und die menschliche Gesellschaft verändern, Exponentialfunktionen sind (zum Beispiel in sozialen Netzwerken, was ich im 1. Kapitel erwähnt hatte). Und weil wir diese Prozesse in die Zukunft modellieren müssen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich die Welt und die Menschheit verändern werden.

Aber Exponentialfunktionen zu verstehen ist nicht so einfach, denn sie sind absolut nicht intuitiv. Dass das ein Problem ist, ist schon so lange bekannt, dass es sogar eine Legende als Warnung dafür gibt...

Dies ist die Legende vom Reiskorn und dem Schachbrett7:

Der Erfinder des Schachspiels stellt seinem König das Spiel vor. Der König ist davon begeistert und verspricht dem Mann eine Belohnung seiner Wahl. Dieser wünscht sich Reiskörner: 1 Reiskorn auf dem ersten Feld, 2 Reiskörner auf dem zweiten Feld, 4 Reiskörner auf dem dritten Feld. Und so weiter. Auf jedem Schachfeld doppelt so viele Körner wie auf dem Feld davor.

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Das Schachbrett hat 64 Felder. Wie viel Reis bräuchte man, um die Belohnung zu gewähren?

Der König war ein reicher Mann und hielt den Wunsch für bescheiden. Er hat sich geirrt. Der Wunsch konnte nicht erfüllt werden. Wie viel Reis denkst du, wäre nötig?

Die richtige Antwort ist, dass für diese 64 Felder ganz Deutschland mit einer 1m hohen Reiskornschicht bedeckt sein müsste!

Um das selber nachzurechnen, statt es einfach nur als Aussage hinnehmen zu müssen, wechseln wir von der Anzahl der Körner zu ihrem Gewicht.

Ein Reiskorn wiegt etwa 0,03g. Jetzt können wir den Taschenrechner bemühen und erhalten für 264 x 0,03 / 1 000 000 die Zahl der Tonnen Reis8: Etwa 553 Milliarden!

Aber warum können wir das nicht abschätzen, ohne den Taschenrechner zur Hilfe nehmen zu müssen? Das liegt daran, dass unser Gehirn gar keine Chance hat! Nehmen wir an, das Schachfeld wäre kleiner, nur 6x6 Felder groß.

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Wie viel Reis kommt durch die Verdopplungsregel diesmal zusammen?

Jetzt wäre das Ergebnis:

236 x 0,03 / 1 000 000 = 2 060 Tonnen.

Die weltweite jährliche Reisproduktion beträgt ca. 500 Millionen Tonnen.

Das 8x8 große Schachbrett (553 Milliarden Tonnen Reis) bedeutet also den kompletten Ertrag der ganzen Welt für etwa 1 000 Jahre.
Das 6x6 große Schachbrett (2 060 Tonnen Reis) dagegen 0,0004% (4 Millionstel) der Reisproduktion eines Jahres.

Also auch noch viel, aber etwas, was ein antiker König eines großen Reiches sicherlich als Belohnung verschenken könnte.

Gehen wir dagegen einmal in die andere Richtung und stellen uns ein 10x10 Felder großes Schachbrett vor.

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Die Rechnung ist jetzt 2100 x 0,03 / 1 000 000 = 38 x 1021 Tonnen.
Die Erde hat eine Masse von etwa 6 x 1021 Tonnen.
Ein 10x10 Felder großes Schachbrett würde also so viel Reis bedeuten wie 6 Erden...

Wie soll unser armes Gehirn das abschätzen können? Es bekommt ein Schachbrett vorgesetzt und eine Verdopplungsregel. Ohne zu rechnen, gibt es keine Chance intuitiv einzuschätzen, ob dabei als Masse jetzt ein Lagerhaus voll, Tiefschnee über ganz Deutschland, oder mehr als die ganze Welt heraus kommt! Keine Chance, da hilft nur rechnen!

 

Die eine Sache, die aus diesem Beispiel hoffentlich klar wird, ist die: Wenn man eine Exponentialfunktion einfach wachsen lässt, ohne sie auszubremsen, dann ist es egal, wie winzig sie anfängt (ein einzelnes Reiskorn). Wenn man nur lange genug wartet, das Schachbrett groß genug werden lässt, dann wird sie die ganze Erde verschlingen.

Nun ist genau das natürlich der springende Punkt: In einem realen System bleibt es nicht ewig bei einer ungebremsten Exponentialfunktion. An einem bestimmten Punkt wird das Wachstum durch Ressourcenknappheit ausgebremst und schließlich gestoppt werden.

Ich halte es daher für entscheidend, wegzugehen vom Blick auf den aktuellen Zustand (ein Reiskorn auf dem ersten Schachfeld). Sobald man erkannt hat, dass es sich um exponentielles Wachstum handelt, sollte man sich stattdessen die Wachstumsgrenzen ansehen (etwas, das es im Schachbrettbeispiel nicht gibt).