10. Staat

10.1 Einleitung

Wir kommen jetzt bereits zur letzten großen Zukunftsvision dieses Buches. Einer, die gewissermaßen alle anderen zusammenhält: der Regierung.
Zukunftsvisionen können ja nicht aus dem Nichts entstehen. Es sind gesellschaftliche Systeme. Selbst, wenn ein Staat zu der Überzeugung kommt, dass er eine bestimmte Zukunftsvision verwirklichen möchte, dann ist damit noch lange nicht garantiert, dass diese Umsetzung auch gut wird. Das steht und fällt mit einer kompetenten Regierung und Bürokratie. Genauso, wie die graduelle Verbesserung oder Verschlechterung der aktuellen gesellschaftlichen Systeme von ihnen abhängt. Viel wichtiger aber noch: Davon hängt auch ab, ob sich die Bürger in ihrem Staat frei entfalten, nach ihren Zielen streben, sich an der Entwicklung und den Entscheidungen ihres Staates beteiligen können. Oder eben nicht.

Wie gut schlagen sich die bestehenden Demokratien, wenn wir diese Messlatte an sie anlegen? Wie gut sind sie darin, kompetent geführt und verwaltet zu werden?
Das ist eine schwierige Frage, weil sie stark davon abhängt, welche Erwartungshaltung wir haben. Kompetent geführt und verwaltet im Vergleich zu was?

Die Antwort auf diese Frage muss stark vom Erfolg der Demokratien abhängen, demokratisch zu bleiben, und von der Zufriedenheit ihrer Bürger. Denn was bringt es, wenn die Demokratien zwar objektiv gesehen gut funktionieren, aber aufgrund von Unzufriedenheit oder Angriffen keine Demokratien bleiben? Sehen wir uns also den aktuellen Zustand der Welt an, um abschätzen zu können, ob die Demokratie als Regierungsform ein Problem hat oder nicht.

Die Welt war jahrhundertelang der Überzeugung, dass der Vormarsch der Demokratie nicht aufzuhalten sei. Natürlich haben sich immer wieder Diktaturen erhoben, aber im Schnitt wurde der Anteil der in Demokratien lebenden Bevölkerung im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer größer (siehe 1.1, Illustration „The World as 100 People“).

Dies wurde als Grundeigenschaft der demokratischen Staaten angesehen – dass sie dazu neigen, ihre Kultur und ihre Ideen weiter zu verbreiten. Stichwort „American Dream“.

Doch wenn ich mir den Verlauf der Geschichte seit dem Jahrtausendwechsel ansehe, dann glaube ich nicht, dass diese Sicht der Dinge so noch richtig ist.

In früheren Zeiten waren es meist Militärputsche oder Eroberungen, welche die Ausbreitung der Demokratie zurückgeworfen haben. Heute dagegen sehe ich viele Länder, die eher dem Schema der NSDAP in der Weimarer Republik folgen: eine gewählte Partei höhlt die Demokratie von innen aus, um ihre Macht zu erweitern und abzusichern. Das führt dann wahlweise zu einem Einparteienstaat oder in eine Autokratie. In jedem Fall wird das Volk entmündigt.

Länder, die sich zur Zeit nach diesem Schema verändern, sind Russland, Türkei, Ungarn, Venezuela. Und diese Liste ist bei weitem nicht vollständig.79
Selbst in den USA ist diese Gefahr ganz klar präsent. Von 2017 bis 2021 ist dieses Land dem Abgleiten in eine Autokratie, oder alternativ einen Bürgerkrieg, nur dadurch entgangen, dass Trump nur dumm/dement war, statt aktiv den Staat umzubauen. Ob die USA jetzt, da Trump zum zweiten Mal Präsident geworden ist und er sich in vier Jahren nicht einfach zur Wiederwahl stellen kann, erneut so glimpflich davon kommen werden, steht noch in den Sternen. Ich halte es für durchaus möglich, dass es dort 2028 keine reguläre Wahl oder keinen normalen Machtwechsel gibt.

Warum wählen Menschen Parteien, bei denen eine solche Gefahr für den objektiven Betrachter absehbar ist?

Politikverdrossenheit, der Wunsch es „denen da oben“ mal so richtig zu zeigen, der Wunsch nach Veränderung, das Gefühl ohnmächtig zu sein.

Kolumnisten heben an dieser Stelle regelmäßig zu mahnenden Worten an die Bürger an, dass sie für ihre Rechte einstehen, sich vor der Wahl informieren, demonstrieren, mündige Bürger sein sollen. Manchmal erfolgt noch die Mahnung an die Presse, doch bitte objektiv und kritisch zu berichten.

Aber was, wenn die Presse nun mal parteiisch ist, wie wir das in Großbritannien und den USA sehen? Was, wenn sie vom Staat an der objektiven Berichterstattung gehindert wird, wie in Russland und der Türkei?

Wir haben mit den Kulturpunkten im 5. Kapitel zwar ein besseres Pressewesen vorgestellt. Aber natürlich ist das von einer autokratischen Regierung, durch die Rede- und Pressefreiheit beschneidende Gesetze, wieder aushebelbar.
Ist die Presse unfrei oder parteiisch, dann werden hier letztlich völlig überzogene Erwartungen an die Bürger gestellt, sich trotz der Propaganda mehrheitlich(!) für die richtige Alternative zu entscheiden.
Und das, wo der Staat doch hervorragende Möglichkeiten hat, die beliebtesten Oppositionspolitiker kalt zu stellen, wie man es in Russland sehr gut verfolgen kann (da werden Kritiker auch im Ausland noch mit Plutonium vergiftet). Ganz abgesehen von den vielfältigen Möglichkeiten der Wahlfälschung, die ein solcher Staat hat.

Hier auf die Bürger zu hoffen, ist ungefähr so sinnvoll wie zu glauben, die DDR hätte sich durch eine Parlamentswahl in eine Demokratie verwandeln können. Hat eine Partei erst einmal Macht in diesem Umfang erlangt, gibt sie diese nur noch durch Putsch, Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung (= Massendemonstrationen) oder Bürgerkrieg wieder her. Das kann nach 20, 50 oder 100 Jahren passieren, je nachdem, wann das Land zugrunde gewirtschaftet wurde.

Aber wie man an China sehen kann, muss eine Partei ihr Land gar nicht zugrunde wirtschaften, sie kann es auch mit starker Hand zu wirtschaftlicher Größe führen! Und dann rebelliert das Volk auch nicht.

Diese Überlegungen halten mich davon ab, die stetige Ausbreitung der Demokratie als Selbstläufer zu sehen. Ganz im Gegenteil scheinen die Demokratien aktuell deutlich an Boden zu verlieren.

Ich würde die eingangs gestellte Frage daher mit „ja“ beantworten: Die Demokratie als Regierungsform hat ein Problem.

 

Ich habe viele Jahre darüber nachgedacht, warum Demokratien so fragil und ineffizient sind und was es an Alternativen geben könnte. Lange, bevor ich angefangen habe, dieses Buch zu schreiben.

Ich habe zum Beispiel viel über Varianten nachgedacht, wie mit Hilfe von Computertechnologie mehr direkte Demokratie erreicht werden könnte. Das würde viele Kipppunkte der repräsentativen Demokratie beseitigen und theoretisch sowohl zu besseren Entscheidungen als auch zu weniger Politikverdrossenheit führen. In Deutschland hatte die Piratenpartei Überlegungen in diese Richtung, hat sie aber leider nicht verfolgt und ist inzwischen wieder in der Bedeutungslosigkeit versunken.

Das Problem des Ansatzes einer direkten Demokratie ist die Menge an Software, die er benötigt, und die Verwundbarkeit, die dies nach sich zieht. Will man wirklich die Bedienoberfläche einer Anwendung (GUI) zum Teil einer Verfassung machen? In Anbetracht dessen, wie schnell sich Software Jahr für Jahr weiterentwickelt? Und wie genau definiert man die Entscheidungsprozesse, ohne die Bürger durch zu viele Abstimmungen zu überfordern? Sie müssen neben Politik ja auch noch ihr normales Leben führen.

Ich sage nicht, dass man auf diese Fragen keine zufriedenstellenden Antworten finden kann. Ich habe nur festgestellt, dass es ein weit schwierigeres Problem ist, hier saubere Lösungen zu finden, als es zunächst den Anschein hat.

Ich denke, ich habe inzwischen einen völlig anderen Ansatz gefunden. Einen, den ich noch nirgendwo gelesen habe, und den ich hier als Zukunftsvision vorstellen möchte.

Die Grundidee ist folgende: Evolution führt zu effizienten, belastbaren Lösungen und zu Redundanz im Fall von Problemen. Wettstreit führt dazu, dass sich die zur Erreichung des Zieles beste Lösung durchsetzt. Was also, wenn der Staat kein festes Gebilde wäre, sondern man Dynamik tief in seinem Wesen verankert, so dass Evolution und Wettstreit dazu führen, dass sich die besten Lösungen im Laufe der Zeit durchsetzen?

Es gibt bereits Leute, die etwas in dieser Richtung vorschlagen: Die Libertären. Sie wollen Unternehmen an die Stelle des Staates treten lassen. Jeder Mensch entscheidet, welchem Unternehmen er Geld dafür bezahlt, seine Rechte zu schützen. Das ist nicht ganz so verrückt wie es klingt, aber doch ziemlich. Und es führt zu einem schwachen Staat, der die Rechte der Unternehmen vertritt und nicht die der Bürger. Das klingt dann doch eher nach einer Dystopie (Das soll kein Verriss der Idee sein, aber ich will ihre Vorteile und Risiken hier nicht weiter ausführen).

Einen Teil dieser Idee finde ich aber genial: Jeden Bürger wählen zu lassen, unter welchen Regeln er oder sie lebt.

Das könnte man ganz klassisch umsetzen:

Man teilt das Land in kleine Gebiete ein. Es gibt verschiedene Staaten mit jeweils eigenen Regeln, und jeder Staat bekommt Fläche proportional zu der Menge an Menschen, die in ihm leben wollen. Jeder kann jederzeit wechseln.

Somit erfolgt die Abstimmung mit den Füßen, und es sollten sich theoretisch die Staaten durchsetzen, in welchen die Menschen leben wollen.

Aber:

• Wir haben jetzt nicht mehr einen Staat, sondern mehrere.

• Wie hindert man einen Staat daran, sein Gebiet mit Waffengewalt für sich zu behalten, wenn er Bürger verliert? Oder die Bürger gleich am Gehen zu hindern?

• Umziehen, neue Freunde und neue Arbeit zu suchen, ist ein riesiger Aufwand. Den werden die Leute erst auf sich nehmen, wenn es schon ziemlich schlimm steht.

• Wenn Teile des Landes an einen anderen Staat gehen, wegen Bevölkerungsverschiebung, dann müssen alle Bürger, die in diesem Teil leben, umziehen. Sozusagen ständige Völkerwanderung! …

Also: Nettes Gedankenexperiment, aber so nicht.