6. Gesundheitswesen

6.4 Auslastung der Ärzte

Wie unterscheidet sich das eben beschriebene System der Bezahlung vom aktuellen deutschen System der Fallpauschalen? Wie wirken diese Boni zusammen?

Ein großer Vorteil gegenüber Fallpauschalen sollte auf jeden Fall sein, dass es keine willkürlich festgelegten Geldwerte für bestimmte Behandlungen gibt. Was dann dazu führt, dass Krankenhäuser viel lieber Hüftoperationen durchführen als sich mit Diabetikern zu beschäftigen (weil das je Aufwand deutlich mehr Geld einbringt). Stattdessen ergibt sich die Bezahlung aus der durchschnittlichen Behandlungszeit. Der Bonus für wichtigere und effektivere Behandlungen sorgt dafür, dass diese bevorzugt erledigt werden, falls der Arzt aus Zeitmangel einen Teil der Patienten ablehnen muss.32

Es lohnt sich für einen Arzt nicht, unnötige Behandlungen durchzuführen, da darunter seine Patientenzufriedenheit und seine Kompetenzbewertung leiden wird. Falls der Staat feststellt, dass jede zweite seiner Behandlungen unnötig war, dann sind die Aufwandspunkte für diesen Arzt plötzlich nur noch die Hälfte wert.33

Falls ein Arzt voll ausgelastet ist, und einen Teil seiner Patienten daher ablehnen muss, dann lohnt es sich für ihn, effizienter zu arbeiten und einen größeren Teil des Arbeitsaufwands auf Krankenpfleger zu verlagern. Solange Kompetenz und Patientenzufriedenheit darunter nicht zu sehr leiden, wird er dafür besser bezahlt werden (da er mehr Aufwandspunkte sammelt). Das ist auch richtig und wichtig so, schließlich sollen möglichst alle Patienten behandelt werden, ohne lange auf einen Termin warten zu müssen.

Ist der Arzt dagegen nicht voll ausgelastet (was der Normalfall sein sollte), dann kann er sich für jeden Patienten etwas mehr Zeit nehmen. Es kostet ihn keine Einnahmen durch entgangene Aufwandspunkte (es wartet ja niemand), und die zusätzliche Zeit sollte die Patientenzufriedenheit und die Kompetenzbewertung verbessern (solange er keine unnötigen Behandlungen durchführt). Was dann wiederum ein besseres Einkommen für den Arzt bedeutet.

Damit die Ärzte im Schnitt nicht voll ausgelastet sind und das ganze System so funktioniert wie es soll, wird eine durchschnittliche Auslastung der Ärzte von 80% angestrebt. Die Zielzahl der Ärzte haben wir festgelegt (ein Arzt je 100 Einwohner), und sie lässt sich kurzfristig auch nicht ändern (wir wollen kompetente Ärzte ja nicht entlassen und somit verlieren). Stattdessen wird es einen Leistungskatalog geben, welche Behandlungen vom staatlichen Gesundheitssystem bezahlt werden und welche nicht. Dieser Katalog ist für jede Fachrichtung nach Effizienz sortiert (Wie viel zusätzliche Lebensqualität für wie lange ermöglicht diese Behandlung im Schnitt, im Verhältnis zu ihren Kosten?). Liegt die Auslastung einer Fachrichtung bei über 80%, fallen ihre ineffizientesten Behandlungen aus dem Katalog heraus. Liegt die Auslastung bei unter 80%, so werden die nächst effizientesten Behandlungen neu aufgenommen. Aus dem Vergleich der Effizienz der gerade noch/gerade nicht mehr bezahlten Behandlungen der Fachrichtungen kann der Staat den Ärztebedarf ermitteln: Wenn Allgemeinmediziner nützliche Behandlungen unterlassen müssen, weil Ärzte fehlen, während Zahnärzte auch noch Goldbeschichtungen vornehmen, weil sie so viel Zeit haben - dann brauchen wir mehr Allgemeinmediziner und weniger Zahnärzte. Da der Staat die Ärzte anstellt und bezahlt, hat er hier alle Steuermöglichkeiten offen.

Die Begrenzung der Auslastung auf 80% in normalen Zeiten sorgt für Wettbewerb im System (Patienten können einen guten Arzt auswählen und bekommen da auch einen Termin) und ist für ein gutes Funktionieren notwendig. Was für den Staat ebenfalls sehr wünschenswert ist: Es bedeutet, dass noch eine Reserve da ist! Beträgt die Belastung der Mitarbeiter in normalen Zeiten nur 80%, dann können sie in einer Krisensituation, wie einer starken Grippewelle, einer Coronapandemie, einer Naturkatastrophe oder einem Krieg, über 100% hinausgehen, ohne dass gleich die Gefahr eines Burnouts besteht. Läuft das System dagegen immer am Anschlag, wie es für große Teile des deutschen Gesundheitssystems aktuell der Fall ist, dann ist diese Reserve eben nicht vorhanden, und das System kann mit Krisensituationen viel schlechter umgehen.

Der hier vorgestellte Systementwurf dagegen hält sich daran, was ich zum Ende des 3. Kapitels festgehalten habe: Zukunftsvisionen sollten widerstandsfähig sein.

Falls Patienten eine Behandlung haben wollen, die nicht von diesem Leistungskatalog abgedeckt ist, dann ist das möglich. Entweder indem sie die Behandlung selbst bezahlen, oder indem eine private Zusatzversicherung diese Kosten trägt. Sie können sich dafür entweder an eine private Klinik wenden, die gar nichts mit dem staatlichen Gesundheitssystem zu tun hat, oder ein staatlich bezahlter Arzt kann sie vornehmen. Die Aufwandspunkte für diese Behandlung haben einen Malus, so dass sich der Aufwand für den Arzt weniger lohnt als Behandlungen aus dem staatlich bezahlten Leistungskatalog (eine Umkehrung des aktuellen Zustands, wo Privatpatienten bevorzugt behandelt werden). Die Bezahlung für diese Behandlung geht an den Staat und liegt deutlich höher als das Geld, das der Arzt erhält (Hier muss Schwarzarbeit und Bestechung verhindert werden!). Von diesem Geld bezahlt der Staat zusätzliche Ärzte, um den Zeitaufwand auszugleichen, den diese privat finanzierten Behandlungen verursachen.

Ein kurzes Wort zu den vom Staat bezahlten Medikamenten: Nur Medikamente, die das staatliche Zulassungsverfahren durchlaufen haben (siehe 5.2 „Patentwesen“), und so ihre Wirksamkeit belegt haben, werden von der staatlichen Krankenkasse bezahlt. Ähnlich wie ärztliche Leistungen, sind auch die Medikamente nach Effizienz sortiert. Steigen die Gesamtausgaben für Medikamente auf einen zu hohen Wert, so wird der Staat die ineffizientesten Medikamente nicht mehr bezahlen. Hier ist es dann wieder Sache der Bürger, ob sie die Medikamente selbst bezahlen, über eine Zusatzversicherung abdecken können oder auf sie verzichten müssen.

Hier hilft die in 5.2 beschriebene Abschaffung des Patentwesens enorm, da sie die Herstellung von Generika erleichtert. Generika sind viel günstiger als die ursprünglichen Markenmedikamente. Und günstigere Medikamente bedeuten, dass sich deutlich mehr Medikamente auf der staatlich bezahlten Liste befinden.

Auch das ist wieder ein Beispiel für die angekündigten schweren Ethikentscheidungen. Es ist nicht genug Geld für alles da. Alles, was der Staat tun kann, ist möglichst objektiv zu entscheiden, wie er die begrenzten Geldmittel am effizientesten einsetzt.

 

Die Terminvergabe der Ärzte wird über die Gesundheitsapp organisiert.

Jeder Arzt gibt an, wie viele Stunden er in der Woche maximal mit Patiententerminen füllen will. Er gibt seine Arbeits- und Urlaubstage an. Für Arbeitstage wählt er passende Terminblöcke aus (er kann auch eine Präferenz angeben, so dass sich andere Termine erst füllen, wenn die bevorzugten Terminblöcke voll sind). Die Gesundheitsapp reserviert dann automatisch Zeitblöcke für Patienten, die einen Arzt suchen. Der überweisende Arzt oder der Patient selbst wählt die Kategorie für den Grund des Arztbesuches aus.34 Der Arzt legt für jede dieser Kategorien fest, wie viel Zeit das System reservieren soll.

Für den Staat sind all diese Termindaten unglaublich nützlich, um Probleme im System (wie punktuelle Überlastung) frühzeitig zu bemerken. Für Patienten ist es sehr bequem, ihre Arzttermine flexibel und ohne Wartezeiten über ihre Gesundheitsapp organisieren zu können.

Jeder Arzt ist verpflichtet, am Ende seines Arbeitstages eine gewisse Zeit als offene Sprechstunde anzubieten. Zeit, in der er für Patienten zur Verfügung steht, aber für die er keine Termine vergibt. Kommt kein Patient, kann er die Zeit für Büroarbeiten nutzen. Bei allgemeinen Ärzten ist dies für akute Probleme von Patienten gedacht, um so die Notfallaufnahmen der Krankenhäuser zu entlasten. Bei den Fachärzten in den Polikliniken ermöglicht es Folgeuntersuchungen oder Behandlungen direkt am Tag des jährlichen Check-ups oder als Folge eines Termins bei einem anderen Facharzt.

Wie ermitteln wir die Auslastung der Ärzte? Wir benötigen sie für mehrere wichtige Entscheidungen: Um für jede Fachrichtung festzulegen, welche Behandlungen vom Staat bezahlt werden und welche nicht. Um zu wissen, in welchem Fachbereich mehr oder weniger Ärzte nötig sind. Und schließlich, um festzustellen, an welchem Ort mehr Ärzte einer Fachrichtung benötigt werden. Für „Ort“ bieten sich die Kreise als Verwaltungseinheit an, auf deren Grundlage wir geografische Entscheidungen treffen: Ihre Einwohnerzahlen liegen in der Größenordnung von 100 000. Mit einem Arzt je 100 Bürgern befinden sich in einem Kreis also größenordnungsmäßig 1 000 Ärzte.

Jetzt könnte man natürlich naiv sagen, dass die Ärzteauslastung gleich dem Prozentsatz der vergebenen Arzttermine ist. Was ja auch erst einmal stimmt.

Macht man das aber so, begibt man sich in einen Teufelskreis: Weil viele Ärzte wie beabsichtigt noch freie Kapazitäten haben, nehmen sie sich mehr Zeit pro Patient (gut!), und steigern dadurch ihren Zufriedenheits- und Kompetenzwert (auch gut!), um so mehr Geld zu verdienen. So weit alles klar und beabsichtigt. Aber damit haben sie natürlich einen Teil ihrer freien Kapazitäten doch genutzt, so dass diese nicht mehr frei sind. Aus Sicht der Verwaltung ist ihre Auslastung also höher. Was bedeutet, dass jetzt neue Behandlungen gestrichen werden (Um den Auslastungszielwert von 80% wieder zu erreichen). Was bedeutet, dass die Ärzte noch mehr freie Zeit haben und sich noch mehr Zeit für ihre Patienten nehmen, bis im nächsten Jahr dann die nächsten Behandlungen gestrichen werden... So war das nicht gedacht!

Ich fürchte, das ist nicht in eine einfache Formel gießbar. Es gibt zu viele sich im Laufe der Jahre verändernde Werte: Der Anteil verschiedener Krankheiten, die Veränderung möglicher Behandlungen, sich änderndes Arztverhalten und gesellschaftliche Ansprüche, die Kompetenz und Effizienz der Ärzte (die sich auch von Arzt zu Arzt unterscheiden) und so weiter.

Was wir aber tun können ist, es zu simulieren wie das Wetter, denn wir haben jede Menge Daten dafür. Wenn die Zahl der Patienten steigt, wie verändert sich dann die Qualität der Gesundheitsversorgung (gemessen an Wartezeiten, sowie Zufriedenheits- und Kompetenzbewertungen der einzelnen Ärzte)? Wir füttern ein neuronales Netz mit den historischen Daten, bis es die bisherige Entwicklung so gut wie möglich vorhersagt (je Fachbereich und je Kreis). Dann fragen wir das zukünftige Verhalten ab, für verschiedene prozentuale Zuwächse nötiger Behandlungen. Für jeden Fachbereich und jeden Kreis ist der höchste mögliche Zuwachs ohne spürbare Qualitätseinbuße die hundertprozentige lokale Auslastung des Gesundheitssystems (nimmt die Qualität spürbar zu, wenn die Behandlungen abnehmen, dann ist die lokale Auslastung bereits bei über 100%). Diese Werte sind dann unsere Grundlage für alle weiteren Entscheidungen (25% möglicher Zuwachs entspricht 80% Auslastung).

Wenn wir ein solches Simulationsmodell einmal entwickelt haben, dann können und werden wir es natürlich auch dafür einsetzen, um an weiteren Stellschrauben zu drehen: Wie viele offene Sprechstunden in jedem Fachbereich liefern das beste Ergebnis? Welche Gehaltsformel (Zusammensetzung Patientenzufriedenheit, Kompetenz, Effizienz) ist am fairsten? Ist 80% Zielauslastung wirklich der beste Wert, oder funktioniert 85% genauso gut? Wir versuchen hier ein komplexes System zum Funktionieren zu bekommen. Jede Hilfe beim richtigen Justieren, die wir der Simulation entlocken können, jeder Hinweis auf ein sich anbahnendes Problem, ist dabei extrem hilfreich.

Jetzt brauchen wir noch ein faires Verfahren, wie wir die verfügbaren Ärzte den Kreisen zuordnen. Welche Kreise dürfen Ärzten welcher Fachrichtungen eine Stelle anbieten? Das Gehalt der Ärzte bezahlt schließlich der Staat.

Auf der einen Seite wollen wir den Ärzten eine Wahlfreiheit lassen. Es klingt nicht sehr fair, wenn der Staat Ärzte im ganzen Land an einen beliebigen Ort beordern darf. Auf der anderen Seite wollen wir den Ärzten keine komplette Wahlfreiheit lassen: Sonst gibt es in der Hauptstadt viel zu viele Ärzte und draußen auf dem Land viel zu wenige.

Man könnte sich hier viele Regelungen ausdenken. Ich schlage folgende einfache Logik vor: Für jede Fachrichtung dürfen nur die Kreise Ärzte anwerben, die aktuell eine überdurchschnittlich hohe Auslastung ihrer Ärzte dieser Fachrichtung haben (das sollte für jede Fachrichtung etwa die Hälfte aller Kreise sein). Jeder Kreis darf so viele Ärzte anwerben, dass die Auslastung durch die zusätzlichen Kapazitäten den Durchschnitt erreicht (wodurch andere Kreise unter den Durchschnitt sinken und neue Ärzte anwerben dürfen).

Die Entscheidung, ob und wo im Kreis Ärzte arbeiten können, treffen der Kreis und die Leiter der Polikliniken (welche ebenfalls vom Kreis ausgewählt wurden). Wenn ein Kreis also keine oder keine attraktiven Arbeitsmöglichkeiten für Ärzte anbietet: Das ist etwas, das die Wähler beeinflussen können, indem sie kompetentere Politiker in ihrem Kreis wählen!35