12. Mit wem wir leben

12.4 Entstehung

Sehen wir uns nun an, wie sich Menschen zu Familias zusammenfinden können. Auch hier gilt wieder, dass dies nur Möglichkeiten sind, die ich aufzeige. So, wie Menschen auf verschiedenste Weise einen Liebespartner finden oder WGs auf ganz verschiedene Weisen entstehen können.

Da es ein in diesem Buch vorgestelltes neues Konzept ist, wird die Gründung der ersten Familias von Lesern dieses Buches ausgehen.

Entweder, weil sie bewusst Gleichgesinnte suchen, die dieses Buch ebenfalls gelesen haben und auf diese Art zusammenleben wollen. In diesem Fall ist es extrem wichtig, dass sich diese Menschen zunächst längere Zeit gut kennenlernen, zusammen Zeit verbringen und Aufgaben gemeinsam erledigen, bevor sie dieses Experiment starten. Eine Familiagründung durch Menschen, die weit weg voneinander wohnen, wo dies also nicht vernünftig möglich ist, ist daher mindestens sehr heikel. Eine Familia ist keine WG, die sich einfach wieder trennt, wenn das Studium vorbei ist oder man coolere Mitstudenten kennengelernt hat! Es braucht Zeit, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, und ohne diese Grundlage wird die Familia scheitern.

Alternativ haben Leser in ihrem Freundeskreis Menschen, bei denen sie glauben, dass sie an dieser Art des Zusammenlebens Interesse haben könnten. In dem Fall beginnt es mit einer Buchempfehlung, gefolgt von Gesprächen über den Inhalt dieses Kapitels. Ist das Interesse der Freunde tatsächlich da, sieht es in dieser Variante mit der Voraussetzung gegenseitigen Vertrauens natürlich viel besser aus.

Eine Familia sollte mit vier, höchstens aber mit sechs Erwachsenen starten. Mindestens vier, damit paarweise Arbeit umsetzbar ist, und da Aufgaben- und Kompetenzverteilung erst dann deutlich besser als in einer Kleinfamilie funktionieren. Nicht mehr als sechs, um den Aufbau der Vertrauensverhältnisse vor oder zu Beginn des Zusammenlebens nicht zu schwer werden zu lassen. Auch lassen sich Probleme in der konkreten Umsetzung dieses Lebenskonzeptes besser lösen, wenn die Zahl der Teilnehmer noch klein, aber größer als zwei ist. Tendenziell ist es vermutlich leichter, wenn sich zwei oder drei Paare mit ihren Kindern zu einer Familia zusammenschließen. Dann hat zumindest ein Teil der Familiamitglieder vorher bereits zusammengelebt, und die Anzahl der Hausstände, die koordiniert werden müssen, ist geringer. Ein Zusammenschluss mit Singles und alleinerziehenden Eltern ist aber natürlich ebenso möglich.

In jeder Variante sollte es beim Ausloten einer möglichen Familiagründung ein ausführliches Gespräch über die eigenen Grundwerte geben: Was möchte jeder in seinem eigenen Leben erreichen, und auf welchem Weg? Übereinstimmende oder zumindest gut zueinander passende Grundwerte sind als gemeinsame Basis einer Familia sehr wichtig.
Genauso wichtig ist es, über die eigenen Kompetenzen zu sprechen - welche Fertigkeiten jeder in die Familia einbringen kann. Es bringt herzlich wenig, wenn sich vier Kindergärtner zusammentun, aber niemand Ahnung von Technik hat. Oder vier Programmierer, von denen niemand handwerkliches Geschick oder Sozialkompetenz mitbringt. Natürlich wird es Lücken in den Kompetenzen geben. Mit vier Erwachsenen werden vermutlich nicht alle Kompetenzbereiche abgedeckt, geschweige denn alle doppelt vorhanden sein. Das ist in Ordnung. Aber da ein wichtiger Grundgedanke der Familia bessere Verteilung der Aufgaben nach Kompetenzen ist, sollten die Gründungsmitglieder zumindest schon ein breites Spektrum an Kompetenzen abdecken, statt alle im selben Bereich spezialisiert zu sein.

Sind diese Grundvoraussetzungen vorhanden, sollte darüber gesprochen werden, wie sich die Mitglieder ihr Zusammenleben in der Familia vorstellen. Wie viel Gemeinschaftsbesitz soll es geben? Welche Aufgaben werden zusammen erledigt, nach welchen Regeln werden sie verteilt? Wie viel Zeit wird die Familia zusammen verbringen (zum Beispiel bei gemeinsamen Mahlzeiten) und wie viel paarweise (bei paarweiser Arbeit und anderweitig)? Soll das gemeinsame Essen vegetarisch oder Bio sein, oder muss es anderen Kriterien entsprechen (zum Beispiel aufgrund von Allergien)? Und so weiter.
Dieses Kapitel hat ja nur eine mögliche Antwort auf solche Fragen vorgestellt und ist in seinem Umfang, und somit den vorgestellten Details, begrenzt. Außerdem ist es notwendigerweise allgemein gehalten, statt auf die tatsächlichen Umstände der räumlichen Umgebung, Kinderanzahl, Kompetenzen und Charaktere der Mitglieder einer konkreten Familia einzugehen.

Nachfolgend liste ich noch einmal die Kernideen des Konzeptes auf. Sie sollten erhalten bleiben, damit die Form des Zusammenlebens noch der in diesem Kapitel vorgestellten Idee der Familia entspricht:

• mindestens vier Erwachsene mit ihren Kindern, die zusammen leben und wirtschaften

• Festlegung für die Familia wichtiger Kompetenzen (auch wenn es andere sind als die von mir beschriebenen)

• Zusammenfindung nach Kompatibilität und nach Kompetenzen (statt nach Liebe oder Ideologie)

• strukturierte Aufgabenverteilung (auch wenn es anders organisiert ist als von mir beschrieben)

• gemeinsames Verbringen von Zeit, sowohl als Familia insgesamt (zum Beispiel bei Mahlzeiten), als auch in wechselnden Paaren

• paarweises Erledigen zumindest eines Teils der Aufgaben

• die Absicht, dauerhaft zusammen zu bleiben (auch wenn es dafür natürlich nie eine Garantie gibt)

• ein gemeinsamer Besitz der Familia, zu welchem alle Erwachsenen etwas beitragen

Eine letzte Sache, die vor Gründung definitiv bedacht werden muss, ist die rechtliche Situation. Abhängig von den lokalen Gesetzen und den Umständen der Gründungsmitglieder muss über Themen wie Vollmachten, steuerliche Aspekte und Eigentumsrechte nachgedacht werden. Hier sollten entsprechende Experten konsultiert und der Austausch mit anderen gesucht werden, die vor ähnlichen Problemen gestanden haben. Kommunen müssen solche Probleme zum Beispiel ebenso lösen. Die Vernetzung mit Gleichgesinnten im Internet (Kompetenz Kontakt) kann hier sehr nützlich sein.

Der Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten wird, auch abseits rechtlicher Aspekte, während der Gründungsphase sehr nützlich sein. Denn sicherlich werden unerwartete Probleme auftauchen, für welche die neue Familia gemeinsam Lösungen finden muss. Wenn die Kontaktkompetenz bei der Lösungssuche Ratschläge anderer Familias beisteuern kann, wird das die Chance deutlich erhöhen, dass eine gute Lösung gefunden wird. Umgekehrt kann man auch die eigenen Erfahrungen teilen, um anderen angehenden Familias den Start zu erleichtern und die Wiederholung der eigenen Fehler zu ersparen.
Ganz allgemein sollten Familias dank der Kontaktkompetenz und Spezialisierung besser darin sein, sich miteinander zu vernetzen, als einzelne Menschen oder Kleinfamilien. Am Anfang mit anderen, die dieses Konzept überhaupt umsetzen, später mit Familias, mit denen man etwas gemeinsam hat oder wo sich einzelne Mitglieder gut kennen. Auch dieses Netzwerk bietet dann wieder eine Art Sicherheitsnetz, da sich vernetzte Familias bei Bedarf mit Rat und Tat gegenseitig unterstützen können.

Die Gründung selbst (idealerweise nach einer Testphase, ob man wirklich gut dauerhaft so zusammenleben kann und will) sollte als ein formaler Akt zelebriert werden. Zum Beispiel als ein gemeinsames Festessen, nachdem man sich gegenseitig ein gut ausformuliertes Versprechen gegeben hat, einander auch in schweren Zeiten beizustehen, sich gegenseitig zu achten und ein Leben lang füreinander da zu sein.
Einfach, damit jeder eine gute Erinnerung an den Zeitpunkt hat, zu dem die Familia eingeweiht wurde, und an die eigene bewusste Entscheidung, daran teilzunehmen.

Sobald die Gründung erfolgt ist, sollte man einen großzügigen Zeitraum einplanen, um sich diese neue Lebensweise einspielen zu lassen. Es ist etwas Neues, mit diesen Personen zusammen zu leben, Arbeit zu teilen, Entscheidungen gemeinsam zu treffen, sich zusammen um die Kinder zu kümmern. Rituale müssen erprobt und erlernt, Vertrauensverhältnisse aufgebaut oder vertieft werden. Bis sich all das normal und richtig anfühlt, entstehende Konflikte entschärft (Kompetenz Harmonie) und Regeln angepasst wurden, die so nicht funktioniert haben, wird einiges an Zeit ins Land gehen. Erst, wenn sich die Familia gut eingespielt hat, sollte über eine Erweiterung nachgedacht werden. Bis dahin ist hoffentlich auch klar, welche Kompetenzen in der Familia bisher nur schwach vertreten sind, wo eine Verstärkung also am meisten helfen würde.

Spätestens bei diesen weiteren Zugängen sollte auch über die Altersstruktur der Familia nachgedacht werden. Sind alle Erwachsenen der Familia in etwa gleich alt, dann sind irgendwann auch alle alt und gebrechlich. Die gegenseitige Unterstützung, Aufgabenteilung und so weiter, wäre dann nur noch eingeschränkt möglich. Wenn die Familia komplett in einem Pflegeheim lebt, anstatt dass gebrechliche Menschen innerhalb der Familia unterstützt werden, dann kommt das einer Auflösung der Gruppe gleich.
Eine heterogenere Altersstruktur, mit unterschiedlich alten Erwachsenen, wäre also besser. Dies hat auch Vorteile, bevor alle alt werden. Jüngere Familiamitglieder können von den Lebenserfahrungen der älteren profitieren, während diese in der Familia geistig jung bleiben und sich gebraucht fühlen. Neben dem Beisteuern von Lebenserfahrung und Wissen ist das zum Beispiel im Bereich der Kinderbetreuung der Fall: Wer schon in Rente ist, kann sich auch dann um Kinder kümmern, wenn alle anderen auf Arbeit sind. Das Konzept des Mehrgenerationenhauses versucht ähnliche Synergien aus dem Zusammenleben mehrerer Generationen zu schöpfen, und es war stets ein Kernelement von Großfamilien.

Während ein als Kleinfamilie zusammenlebendes Paar also zusammen alt wird und die Kleinfamilie somit wieder endet, wird in der Familia der Staffelstab von der älteren Generation nach und nach an jüngere Familiamitglieder weitergereicht, so wie Großfamilien es tun.
Dieses gewünschte unterschiedliche Alter bildet aber auch ein Spannungsfeld mit der Familiagröße und der Kinderbetreuung. Wenn dadurch nämlich immer nur ein oder zwei Kinder gleichzeitig in der Familia sind, dann gehen die Vorteile mehrerer Geschwister verloren, genauso wie ein guter Teil der Vorteile gemeinsamer Kinderbetreuung. Wird die Familia zu groß, kann sie dysfunktional werden. Bleibt man dagegen, um dieses Problem zu umgehen, bei einer Familia mit ähnlich alten Erwachsenen, die dann im Alter wieder endet, würde das einen Teil des Potentials dieses Konzeptes verschenken. Hier werden verschiedene Familias verschiedene Lösungen finden, und Erfahrung hoffentlich im Laufe der Zeit zeigen, was die beste Abwägung ist.

Eine große Triebfeder für Zu- und Abgänge von Familiamitgliedern werden sicher Liebesbeziehungen sein. Die Grundlage der Familia sind Kompatibilität, gemeinsame Grundwerte, ein breites Spektrum der nötigen Kompetenzen und die aus dem Zusammenleben erwachsenden Vertrauensverhältnisse. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Liebesbeziehung und Sexualität keine Voraussetzung sind.
Natürlich kann und wird es romantische Liebesbeziehungen innerhalb der Familia geben - wann immer ein Paar gemeinsam Teil einer Familia wird. Aber es macht die Familia nicht aus, und nur weil eine Liebesbeziehung endet, heißt das nicht, dass jetzt einer der beiden die Familia verlassen muss. Umgekehrt sind Beziehungen und Affären außerhalb der Familia völlig legitim und kein Vertrauensbruch, solange sie nicht mit einer Liebesbeziehung dieser Person innerhalb der Familia kollidieren.

Nur weil in den meisten Fällen keine körperliche Liebesbeziehung zwischen Familiamitgliedern besteht, heißt das aber nicht, dass es innerhalb einer Familia keinen Körperkontakt geben sollte. Auch hier gilt wieder: Menschen sind soziale Wesen, und Körperkontakt gibt Sicherheit, beruhigt, ist gut für die seelische wie körperliche Gesundheit und stärkt die Vertrauensverhältnisse.
Sozialer Körperkontakt zwischen den Familiamitgliedern ist etwas Positives. Seien das Umarmungen, Hände halten, Kämmen, an einander anlehnen, die Schultern massieren oder Ähnliches. Dinge, die wir oft mit romantischen Beziehungen assoziieren. Im Umgang mit den eigenen Kindern haben wir mit ihnen aber keine Probleme, sie sind also nicht sexuell.

Genauso, wie beim Erzählen während des gemeinsamen Essens, gilt auch hier: Wenn man sich dabei unwohl fühlt, ist etwas falsch. Also stoppen und dem Grund nachgehen! Nicht umsonst habe ich immer wieder betont, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen allen Familiamitgliedern Grundvoraussetzung ist (und die mögliche Größe der Familia begrenzt). Genauso, wie einer Kleinfamilie viel fehlt, deren Mitglieder sich nicht umarmen, gilt das auch für die Familia. Diese sozialen Körperkontakte geben Geborgenheit, Sicherheit und emotionalen Halt in unser unsteten und oft anonym kalten Welt. Sie wegzulassen wäre ein großer Verlust. In Kleinfamilien und mit den eigenen Kindern haben wir ein intuitives Gefühl und eine Sensibilität dafür, da es unsere Lebenswirklichkeit ist. Innerhalb der Familia muss sich diese Intuition erst entwickeln, wenn sie gelebt wird. Hier konnte ich nur versuchen, es so gut wie möglich zu beschreiben.

Auch wenn das Auseinandergehen einer romantischen Beziehung keinen der beiden Partner am Verbleib in der Familia hindert, ist es natürlich dennoch möglich, dass ein Paar sich so sehr zerstreitet, dass ein gutes Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Oder dass jemand einen Liebespartner außerhalb der Familia findet, sich entscheidet mit diesem zusammen zu leben und dafür die Familia verlässt.
Umgekehrt ist es natürlich auch möglich, dass ein Liebespartner als Neuzugang zur Familia hinzustößt.

 

Wie sollten Neuzugänge zur Familia gehandhabt werden? Auch dies sind natürlich wieder nur Vorschläge, am Ende wird es jede Familia so machen, wie sie es für richtig hält.

Grundsätzlich muss immer die ganze Familia zustimmen, jemanden neu aufzunehmen. Was voraussetzt, dass alle Mitglieder die Person dafür vorher gut genug kennengelernt haben. Im Folgenden beschreibe ich die geplante Variante dieses Kennenlernens. Falls es auf andere Weise bereits stattgefunden hat, zum Beispiel weil die Person bereits ein Freund der gesamten Familia ist, müssen nur noch die späteren Schritte dieses Prozesses passieren. Ich beschreibe es hier für eine Person, aber der Ablauf ist natürlich genauso gut auf ein Paar anwendbar (ggf. mit Kindern).

1. Zunächst kennt eine Person aus der Familia den möglichen Neuzugang bereits gut. Aufgrund gemeinsamer Arbeit, Freundschaft oder einer Liebesbeziehung. Gut genug, um einschätzen zu können, ob er Interesse an dieser Lebensweise haben könnte, welche Kompetenzen er etwa hat, ob Charakter und Grundwert passen könnten. Die Familia wird zusammen besprechen, dass ihr ein Neuzugang gut tun würde, welche Kompetenzen nützlich wären, und welche Kompetenzen dieser potentielle Neuzugang vermutlich mitbringt.

2. Der mögliche Neuzugang lernt den Rest der Familia kennen und umgekehrt. Ob beim gemeinsamen Essen, einer Unternehmung, bei einer Feier oder anderswo. Eine gegenseitige Sympathie aller ist Voraussetzung dafür, dass dieser Plan weiter verfolgt wird. Und die Chancen sind gut, dass es an diesem Punkt scheitert. Je größer die Familia, desto größer die Chance, dass die Chemie zwischen möglichem Neuzugang und einem Familiamitglied nicht stimmt.

3. Finden sich alle sympathisch, so wird die Kompetenz Kontakt dafür sorgen, dass der mögliche Neuzugang immer wieder Zeit mit der Familia insgesamt und mit einzelnen Mitgliedern verbringt. Das Ziel ist es, dass sich nach und nach Freundschaften zu den Familiamitgliedern aufbauen. Mindestens müssen alle Familiamitglieder genug Zeit mit der Person verbringen, um sie gut einschätzen zu können - Charakter, Kompetenzen, Lebenseinstellung, die persönliche Chemie zu ihr. Im Rahmen dessen wird sie natürlich mitbekommen, wie die Familia lebt und was das ist.
Ein Teil des gemeinsamen Verbringens von Zeit werden Einladungen zu Mahlzeiten der Familia sein, und die Bitte um Hilfe bei der Erledigung bestimmter Aufgaben (auf dem Gebiet der Kompetenzen des möglichen Neuzugangs). Früher oder später wird auch darüber gesprochen werden, was der mögliche Neuzugang von dieser Lebensweise hält, ob sie für ihn in Frage käme, und dass die Familia ihm möglicherweise anbieten wird, sich ihr anzuschließen.

4. Hat die Person Interesse signalisiert, bespricht die Familia dies unter sich beim gemeinsamen Essen: Denken alle Familiamitglieder, den möglichen Neuzugang inzwischen gut genug kennengelernt zu haben, um die Entscheidung treffen zu können? Welche Kompetenzen bringt er mit, wie gut kommen alle mit der Person klar, passt sie vom Charakter und ihren Grundwerten zu der Familia?
Am Ende wird abgestimmt, ob der Person die Familiamitgliedschaft angeboten werden soll, zunächst testweise, bevor alles formalisiert wird. Hier sollte wirklich jeder ausführlich seine Gedanken äußern. Es ist nicht schlimm, einfach noch länger zu warten, wenn sich noch nicht alle sicher sind. Auch wenn die formale Aufnahme erst später folgt, ist das hier die entscheidende Abstimmung, welche einstimmig erfolgen muss, ob die Familia um diese Person (oder dieses Paar) erweitert wird oder nicht.

5. Es sollte eine Phase von einigen Wochen geben, in welcher der Neuzugang bei der Familia wohnt, an allen Mahlzeiten teilnimmt, voll in die Aufgabenverteilung einbezogen wird und auch sonst komplett am Familialeben teilnimmt. Auf der einen Seite, um zu prüfen, ob auch im Alltag alle gut miteinander zurechtkommen. Genauso wie auch in Paarbeziehungen nie klar ist, ob man sich verträgt, wenn man zusammenlebt, bevor man es nicht versucht hat. Zum anderen, um zu schauen, ob wirklich alle ein Vertrauensverhältnis zueinander aufbauen können, damit die Familia für all ihre Mitglieder ein Ort der Geborgenheit sein kann.

6. Die finale Abstimmung aller Familiamitglieder über die Aufnahme des Neuzugangs. Sind während der Testphase keine Probleme aufgetreten, handelt es sich hoffentlich nur um eine Formalie. Jetzt sind auch die Besitztümer zu klären (welche Güter werden in den Gemeinschaftsbesitz eingebracht, welchen Anteil am Gemeinschaftsbesitz bedeutet das), sowie alles Rechtliche analog zu den bisherigen Familiamitgliedern. Natürlich sollte auch die offizielle Vergrößerung der Familia als formaler Akt zelebriert werden, mit gegenseitigen Versprechen, wie schon bei der Familiagründung. Sobald das geschehen ist, kann das neue Familiamitglied seine alte Wohnung kündigen, sowie nicht mehr nötige Verträge.

Über die Verteilung von Besitz, wenn jemand die Familia verlässt, hatte ich ja bereits geschrieben. Was aber ist mit Kindern, bei welchem Elternteil sollen sie wohnen? Dieses Thema wird ja auch in Kleinfamilien schnell sehr komplex, wenn da Kinder mit verschiedenen Partnern, in die Beziehung mitgebrachte Kinder und Besuchsrechte zusammenkommen. Stichwort Patchworkfamilie.
Die eine Seite ist, was die Gerichte vorschreiben, wenn man es von ihnen entscheiden lässt. Dagegen lässt sich nichts machen. Soweit sollte es im Normalfall aber ja nicht kommen. Wie sollte es geregelt werden, solange sich alle friedlich auf etwas einigen?
Auf der einen Seite ist die Familia hoffentlich deutlich langlebiger als eine Kleinfamilie, die auseinandergeht, sobald die Beziehung des Paares endet. Hier stellt sich die Frage, was mit den Kindern passiert, dagegen nur, sobald einer der beiden leiblichen Eltern die Familia verlässt. Auf der anderen Seite wird es aber viel häufiger vorkommen, dass von vornherein nur einer der beiden Elternteile in der Familia lebt, da eine sexuelle Beziehung eben nicht Grundlage und Voraussetzung der Familiamitgliedschaft ist.
Als einzig sinnvolle Lösung erscheint mir, dass Kinder im Normalfall bei der Familia (oder Kleinfamilie) der Mutter leben. Es sei denn, im Einzelfall wird etwas anderes vereinbart oder das Kind ist alt genug, einen eigenen Wunsch zu äußern, und möchte etwas anderes.102

Ein anderer Punkt, über den wir im Hinblick auf Kinder in der Familia nachdenken sollten, ist ein Blick in die fernere Zukunft: Was für Lebenspläne werden Kinder schmieden, die in einer Familia statt in einer Kleinfamilie aufgewachsen sind? Bisher ist das Grundmuster ja, dass sie als Jugendliche oder Erwachsene jemanden kennenlernen, mit dem Partner zusammenziehen und ihre eigene Kleinfamilie gründen.
Jemand, der in einer Familia aufgewachsen ist, hat vermutlich einen anderen Blick auf seine eigene Zukunft als das. Vor allem, wenn die Familia nicht mehr die absolut exotische Ausnahme sein sollte, sondern eine einigermaßen gut bekannte, alternative Form der Lebensgestaltung, so wie heute das Leben in einem Mehrgenerationenhaus.

Eine Variante ist natürlich weiterhin, dass das Kind einmal einen Partner finden und eine Kleinfamilie gründen will. In dem Fall ändert sich für die Lebenspläne des Kindes nichts im Vergleich zur heutigen Normalität.

Die nächste Variante ist, dass das Kind anstrebt, Teil einer anderen Familia zu werden. Entweder eine neue zu gründen, in eine bestehende Familia aufgenommen zu werden, oder zuerst einen Partner zu finden und dann zusammen einer Familia beizutreten.
In diesen Fällen sollte das Kind gut genug verinnerlicht haben, dass dieses Vorhaben neben dem eigenen Charakter (und Grundwerten) vor allem von den eigenen Kompetenzen abhängen wird, anhand derer Familias ihre Mitglieder auswählen.
Ich habe großteils vermieden, in diesem Kapitel Bezug auf andere in diesem Buch vorgestellte Zukunftsvisionen zu nehmen, da die Idee der Familia unabhängig von diesen und in einem viel kleineren Rahmen umsetzbar ist. Hier möchte ich aber doch auf das Bildungskapitel verweisen: Ein Kind, welches als Erwachsener in einer Familia leben will, hat eine zusätzliche Motivation, sich durch Modulauswahl in der Schule auf bestimmte Kompetenzbereiche zu spezialisieren, die in Familias benötigt werden. Genauso, wie Jugendliche heute versuchen, ihre Attraktivität für mögliche Partner zu steigern, steigert Kompetenz die Attraktivität für Familias! (Für mögliche Liebespartner attraktiv sein zu wollen, ersetzt das alles natürlich nicht - es trennt es nur ab davon, mit wem man zusammenlebt.)

Die letzte Variante ist, dass das Kind gerne in seiner Familia bleiben will. Genauso wie früher in der Großfamilie ein Sohn den Bauernhof übernommen hat, ist so etwas auch hier grundsätzlich möglich. Schließlich soll die Familia ja durch jüngere Zugänge generationsübergreifend sein. In vielen Fällen wird sich dieser Wunsch in der Pubertät ändern - viele Kinder wollen sich dann abnabeln und ihren eigenen Weg finden. Aber falls einzelne einen Partner finden und diesen in die bestehende Familia einladen wollen, dann ist das ein gangbarer Weg.

In allen Varianten außer der ersten (Gründung einer Kleinfamilie) ist die Familiaplanung vom Finden eines Liebespartners also weitgehend losgelöst. Vor allem ist es in beiden Reihenfolgen möglich: Entweder wird zuerst ein dauerhafter Partner gefunden, mit dem man vielleicht auch schon zusammenzieht, und es wird erst dann gemeinsam eine Familia gesucht. Oder es wird zuerst die Familia gefunden und erst später ein Partner, mit dem man zusammenleben möchte (wobei dann das Risiko besteht, dass der Partner nicht in die Familia eingeladen wird). Zuletzt besteht natürlich immer auch die Möglichkeit, gar kein dauerhaftes Zusammenleben mit einem Liebespartner anzustreben.

Natürlich haben Kinder weiterhin eine enge Beziehung zu der Familia, in welcher sie aufgewachsen sind. Auch nachdem sie eine eigene gegründet haben, in eine bestehende aufgenommen wurden, alleine oder in einer Kleinfamilie leben. Aber sie sind dann eben nicht mehr Teil dieser zusammen lebenden und wirtschaftenden Gruppe, in der sie aufgewachsen sind. Genauso wenig wie Kinder, die aus der elterlichen Wohnung ausziehen - die müssen dann auch auf eigenen Beinen stehen.

Die Familia ist eine Mischung aus Eigenschaften von Kleinfamilie, Großfamilie und Kommune. Von der Kleinfamilie übernimmt sie das enge Vertrauensverhältnis aller Mitglieder. Von der Großfamilie Arbeitsteilung und das Zusammenleben mehrerer Generationen. Von der Kommune das Zusammenleben nach Wahl, statt nach Blutsbanden.
Die Familia ist effizienter als die Kleinfamilie, dafür aber auch mit mehr Organisationsaufwand verbunden. Sie ist demokratischer als die Großfamilie, dafür besteht aber auch ein größeres Risiko, dass sie endet oder man aus ihr ausgeschlossen wird. Und anders als Kommunen ist sie nicht Zweck- oder Ideologiegebunden, sondern allgemein als lebenslange Form des Zusammenlebens dieser Menschen angelegt.
Als neue Idee kommt die paarweise Zusammenarbeit dazu. Nicht nur da, wo sie die Effizienz der Lösung der konkreten Aufgabe erhöht, sondern so oft wie möglich, um all der anderen langfristigen Vorteile für die Familia willen, die das mitbringt.

Insgesamt denke ich, dass die Familia mehr von den Vorteilen dieser anderen Lebensgemeinschaften übernimmt als von ihren Nachteilen. Sehr gut funktionierende, zusammenlebende Großfamilien kommen der Dynamik der Familia vermutlich am nächsten. Genauso, wie sehr gut funktionierende Dorfgemeinschaften ebenso gut sein können, wie die von mir im 9. Kapitel vorgestellte Idee der Nachbarschaften. Mit der Idee der Familia möchte ich, genauso wie mit der Idee der selbst gewählten Nachbarschaft, diese besten Fälle viel leichter erreichbar machen, damit mehr Menschen so gut leben können.

Ich glaube nicht, dass diese Idee nicht funktionieren kann, weil sie bisher noch niemand hatte. Neue Ideen wirken im Nachhinein, wenn sie sich erst einmal bewiesen haben, oft als selbstverständlich. Und wenn man dann fragt, warum sie nicht schon früher entstanden sind, heißt es oft, die Zeit sei eben erst dann reif dafür gewesen. Natürlich führen drängende Probleme dazu, dass viele Menschen über mögliche Lösungen nachdenken und diese auch ausprobieren. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch bereits vorher möglich gewesen wäre.
Die Idee einer niedergeschriebenen Verfassung mit garantierten Rechten für die Bürger wurde erstmals in der „Bill of Rights“ 1689 in Großbritannien umgesetzt. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen wurde erst im 20. Jahrhundert von den Frauen erkämpft (und ist bis heute noch nicht immer und überall durchgesetzt), obwohl sie in frühen Jäger- und Sammlergesellschaften ziemlich sicher bereits vorhanden war. Die Zeit mag erst dann für diese Ideen reif gewesen sein. Das heißt aber nicht, dass sie nicht bereits früher hätten entstehen können, wenn die Idee dagewesen und Menschen von ihr überzeugt gewesen wären. Und nicht einmal besonders viele Menschen: In einer Monarchie reicht es, wenn der Monarch von etwas überzeugt ist und es durchsetzt. Und die Gleichberechtigung von Frauen wäre in früheren Zeiten in einzelnen Familien oder Dörfern umsetzbar gewesen, selbst wenn andere die Familie oder das Dorf deswegen für komisch gehalten hätten.

Nun will ich damit keineswegs sagen, dass die Idee der Familia so gut oder so weitreichend ist, wie die einer Verfassung oder der Gleichberechtigung der Frauen. Erst die Zeit wird zeigen, ob sie etwas taugt oder nicht. Aber ich will damit sagen, dass diese Idee nicht einfach nur deshalb verworfen werden sollte, weil es sie bisher nicht gab.

Anforderungsabgleich

(Auch wenn sich dieses Konzept auf eine viel kleinere Gruppe als eine ganze Gesellschaft bezieht, so ist es doch eine Zukunftsvision, eine Idee der Gesellschaftsorganisation, und wir können sie daher sinnvoll mit der Liste der Anforderungen an solche Zukunftsvisionen abgleichen.)

Anforderung

Merkmale der Zukunftsvision

geringe Ansprüche an Charakter der Menschen

Jede Familia wählt sich ihre Mitglieder aus und kann somit prüfen, wer zu ihr passt.

keine Weltregierung

• Funktioniert im Rahmen jedes Landes, in welchem Kommunen legal sind.

• Muss nicht die vorherrschende Form von Lebensgemeinschaften sein.

Kosten betrachtet

• günstiger als Kleinfamilien oder Singles

• effizienter als Kleinfamilien oder Singles

automatische Anpassung an sich verändernde Welt

Nicht relevant. Jede Familia wird für sich entscheiden, wie genau sie sich organisiert.

Hilfe für Bürger, mit Veränderungen mitzuhalten

Ja, durch stärkere Spezialisierung, gegenseitige Hilfe und mehr Wissensvermittlung.

technologische Entwicklung fördern

Nicht relevant.

Robustheit, um Widrigkeiten zu trotzen

• Kompetenzbereich Sicherheit, um sich auf Notfälle vorzubereiten.

• Besser darin, sich selbst zu versorgen, als Singles oder Kleinfamilien, da die Familia mehr Fähigkeiten abdecken kann.