6. Gesundheitswesen
6.3 Anzahl Ärzte und ihre Bezahlung
Ich schätze, dass ein solcher Check-up-Tag etwa drei Stunden an ärztlicher Zeit in Anspruch nimmt (verteilt auf den Allgemeinarzt (in den meisten Fällen der Hausarzt des Patienten) und verschiedene Fachärzte). Um diesen Check-up jedes Jahr für jeden Bürger durchführen zu können, würden daher etwa 17 Ärzte pro 10 000 Einwohner benötigt.29 Wir werden für unser Gesundheitssystem also mehr als 43 Ärzte pro 10 000 Einwohner benötigen, wenn wir so viel Arbeitszeit durch Vorsorgeuntersuchungen binden.
Dieses Kapitel soll keine Umbauanleitung für das Gesundheitssystem Deutschlands werden, sondern ein Neuentwurf, wie man (in welchem Land auch immer) ein Gesundheitswesen besser gestalten könnte. Für diejenigen, die es interessiert, folgt im Kasten eine Kostenabschätzung zur Finanzierbarkeit dessen.
Um nicht alle Zahlen für diese Kostenschätzung von Grund auf selbst berechnen zu müssen, bietet sich ein Vergleich mit den Kosten des Deutschen Gesundheitssystems an.
Aktuell (Stand 2024) haben die Gesetzlichen Krankenversicherungen bei 15% Beitragssatz und 90% Abdeckung der Bevölkerung 306 Milliarden € pro Jahr zur Verfügung. Wir werden die Privatversicherung als Alternative abschaffen, daher können wir mit 100% Abdeckung rechnen. Auf der anderen Seite würde ich zu Beginn gerne versuchen, mit 10% Beitragssatz zu haushalten. (306/0,9)/1,5=226 Milliarden €. Von diesem Geld könnte bis zu 1/3 für Gehälter von Ärzten und Krankenpflegern ausgegeben werden. Steigt dieser Anteil viel höher, würde Geld für Therapeuten, Arzneimittel, Hilfsmittel, Krankenhäuser, Fahrzeuge, Ausbildung, Verwaltung, usw. fehlen.
Das heißt, wir können jährlich bis zu 75 Milliarden € als Gehälter für Ärzte und Krankenpfleger ausgeben.
Unter der Annahme, dass wir deutlich mehr Ärzte haben als vorher, sollten zwei Krankenpfleger je Arzt ausreichen. Ärzte verdienen aktuell im Schnitt 7 800€ pro Monat.[32] Da wir sie geringer belasten (da viel mehr Ärzte) können wir dieses Gehalt guten Gewissens auf im Schnitt 6 000€ pro Monat absenken. Krankenpfleger verdienen durchschnittlich 2 700€ pro Monat.[33] Um genug Krankenpfleger zu gewinnen, sollten wir ihnen etwas mehr zahlen, gehen wir von 3 000€ pro Monat aus. Somit kosten 1 Arzt+2 Krankenpfleger pro Jahr ca. 150 000€ an Gehalt (12 x (6 000€ + 2 x 3 000€)=144 000€).
Jetzt, da wir Budget und Kosten haben, können wir die Ärztedichte berechnen, die sich daraus ergibt:
75 000 000 000€ / 150 000€ = 500 000 Ärzte. 500 000 Ärzte / 85 000 000 Einwohner x 10 000 = 58,8 Ärzte je 10 000 Einwohner.
Unter diesen Annahmen kann sich Deutschland also 500 000 Ärzte und 1 000 000 Krankenpfleger leisten. Das sind 59 Ärzte und 118 Krankenpfleger je 10 000 Einwohner...
Ok, Ziel verfehlt. Das sind etwas mehr Ärzte und etwas weniger Krankenpfleger als wir aktuell haben (43 und 132 je 10 000 Einwohner). Wir wollen aber deutlich mehr, und dafür werden wir auch deutlich mehr Geld ausgeben müssen als in dieser Rechnung angenommen.
Nehmen wir also folgende Anpassung vor, um mehr Geld für Gehälter zur Verfügung zu haben: Wir lassen alle anderen Ausgaben des Gesundheitswesens auf dem gleichen Level, das wir mit dem 10% Beitragssatz erreichen, und erhöhen den Beitragssatz um den Betrag, den wir brauchen, um 100 statt 60 Ärzte je 10 000 Einwohner bezahlen zu können. Wir haben 1/3 des Beitragssatzes für die Gehälter verwendet (3,3%) und müssen das mit 10/6 multiplizieren. Damit kommen wir auf einen Betragssatz von 12,2%. 5,5% an Beitragssatz wird dabei für Gehälter von Krankenpflegern und Ärzten ausgegeben (45% der Gesamtkosten).
Ich würde sogar sagen, man kann den Beruf des Arztes noch weiter in Richtung eines normalen Berufes wandeln. Etwas, das nicht fürstlich bezahlt wird, dafür aber auch nur ein normales Arbeitspensum und Stresslevel hat. Wir haben hier mit 6 000€ Monatsgehalt also letztlich eine pessimistische Variante gerechnet. Was gut ist, da das Ziel dieser Überschlagsrechnung ja war, zu zeigen, dass mehr Ärzte finanzierbar sind.
Unsere Überlegungen zur Finanzierbarkeit haben also gezeigt, dass es zwar nicht einfach oder billig, aber durchaus möglich ist, mehr Ärzte und Krankenpfleger zu bezahlen. Wir leisten uns für unseren Entwurf einen Arzt und zwei Krankenpfleger je 100 Einwohner. Das sind 2,3 Mal so viele Ärzte und 50% mehr Krankenpfleger als bisher.
Grundsätzlich sollten sich dafür genug Bewerber finden lassen. Wir senken Arbeitspensum und Stresslevel, bei den Krankenpflegern haben wir zusätzlich auch das Gehalt angehoben. Ich denke, wenn wir 12,2% unserer Einkommen für das Gesundheitswesen ausgeben (Deutschland liegt aktuell mit 14,6% darüber), dann ist es auch gerechtfertigt, dass 3% der Bevölkerung als Ärzte und Krankenpfleger arbeiten.
Wir planen, fast die Hälfte des Gesamtbudgets des Gesundheitswesens für die Gehälter der Ärzte und Krankenpfleger auszugeben. Das bedeutet, dass wir in allem anderen, wofür wir im Gesundheitswesen Geld ausgeben, deutlich besser haushalten müssen als Deutschland dies im Moment tut, um alles bezahlen zu können. Hiermit haben wir auch bereits die erste ethische Entscheidung getroffen. Wie am Anfang des Kapitels gesagt, ist nicht genug Geld dafür da, allen alles zu bezahlen. Wir wollen also die Waagschale weg von Ausgaben für Verwaltung und Medikamente, hin zu Ausgaben für richtige und frühzeitige Diagnosen, gründliche Behandlungen und Zeit zum Reden verschieben. Ich denke, es ist viel wichtiger, genug Ärzte und anderes Personal zu bezahlen, statt das Geld für die allerteuersten Medikamente auszugeben. Denn was bringen die, wenn niemand Zeit hat, mit den Patienten zu sprechen und ihre Probleme frühzeitig zu erkennen?
Wie also können wir das Gesundheitswesen möglichst effizient organisieren, um mit dem dafür eingesetzten Geld möglichst gut zu haushalten (vor allem in Hinblick auf all die Kosten, die nicht die Gehälter von Ärzten und Krankenpflegern sind)?
Mit den gebündelten Vorsorgeuntersuchungen ist, denke ich, schon ein guter Start gemacht.
Dabei war die Rede von Polikliniken, in welchen diese stattfinden. Nicht nur für die Vorsorgeuntersuchungen: Es ist aus vielen Gründen eine gute Idee, verschiedene Ärzte verschiedener Fachrichtungen im selben Haus praktizieren zu lassen. Zum Beispiel sorgt es dafür, dass die Ärzte weniger Zeit und Energie für die Verwaltung aufwenden müssen und sich stattdessen mehr auf ihre Patienten konzentrieren können. Die Patienten sparen Zeit und Wege, wenn sie statt einer Überweisung direkt zu einem anderen Arzt im gleichen Haus wechseln können. Und natürlich ist es auch deutlich effizienter und kostengünstiger, wenn die Rezeption, die Terminvergabe, verschiedene Räume und technische Gerätschaften von mehreren Ärzten zusammen genutzt werden.
Die wichtigste und grundlegendste Frage aber, die wir klären müssen, ist die Bezahlung der Ärzte. Genauer gesagt: Das Anreizsystem für die Ärzte, einen guten Job zu machen. Sind Ärzte Angestellte oder selbständig? Falls angestellt, werden sie vom Staat bezahlt oder von einem privaten Unternehmen? Zahlt der Staat Geld nach Fallpauschalen, nach Aufwand oder einfach ein festes Gehalt?
Ich habe viel über privatwirtschaftliche Anreize nachgedacht. Aber wie ich es auch drehe und wende, ob mit Fallpauschalen, nach Erfolg, nach Aufwand: Es wird immer Wege geben, nach mehr Geld zu streben, statt das Beste für die Patienten zu tun. Der Geldanreiz und das Wohl der Patienten sind nicht austarierbar, wenn der Markt diese Dinge regeln soll.
In vielen anderen Bereichen kann so etwas durch mündige Konsumenten ausgeglichen werden. Der Konsument recherchiert, und kauft dann das Produkt oder die Dienstleistung, welche er oder sie für das Beste hält. Für Patienten ohne eigenes Medizinstudium und mit im Notfall schnell zu fällenden Entscheidungen, funktioniert dieses Prinzip dagegen überhaupt nicht.
Ich schlage daher ein staatlich organisiertes Gesundheitswesen vor. Mit vom Staat bezahlten Ärzten. Dadurch kann der Staat sie weit besser überwachen, als wenn die Ärzte selbständig wären oder von einem privaten Unternehmen bezahlt würden. Diese Grundsatzentscheidung stellt dann aber auch hohe Anforderungen an den Staat, respektive an unseren Systementwurf: Statt einfach zu sagen „der Markt regelt das“, ist es der Staat, der sämtliche Anreizstrukturen schaffen muss. Es gibt einen Grund dafür, dass Planwirtschaft in der Realität nie gut funktioniert hat: Der Staat ist überfordert damit, so viele Detailentscheidungen gut zu treffen. Wir werden den Ärzten also viel Entscheidungsfreiheit lassen müssen, damit der Staat nicht zu viele Entscheidungen treffen muss. Und die Entscheidungen, die der Staat trifft, sollten wo immer möglich klaren Regeln folgen, statt anhand von tagesaktuellen politischen Erwägungen gelenkt zu werden.
Immerhin stehen uns heute zur Entscheidungsfindung ganz andere Möglichkeiten der Computerunterstützung zur Verfügung (siehe Kapitel 4.3 „Digitalisierung“), als es zu Zeiten des real existierenden Sozialismus der Fall war. Na dann, ans Werk!
Damit der Staat das Gesundheitssystem effizient verwalten kann, übermittelt jeder Arzt alle Informationen zu seinen Patienten an den Staat. Welche Untersuchungen mit welchem Ergebnis er durchgeführt hat, alle Laborwerte und Röntgenbilder, gestellte Diagnosen, durchgeführte Behandlungen und Überweisungen. Der Staat verwaltet zentral alle Gesundheitsdaten der gesamten Bevölkerung.
Nachdem wir einmal die Entscheidung getroffen haben, dass der Staat als zentrale Instanz das Gesundheitswesen managt und alle Gesundheitsdaten der Bürger zentral verwaltet, bekommen wir dadurch immerhin einen riesigen Vorteil: Aufgrund der jährlichen Check-ups mit standardisierten Tests sammelt der Staat einen riesigen Datensatz von sehr hoher Qualität. Mithilfe neuronaler Netze können aus diesen Datensätzen Schlussfolgerungen gezogen werden. Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand einen Herzinfarkt bekommt? Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand an Diabetes erkrankt? Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand Krebs bekommt? All das lässt sich aufgrund des wachsenden Datenschatzes und immer besserer Algorithmen von Jahr zu Jahr besser vorhersagen. Und natürlich bekommt der Arzt zum Vorsorgetermin des Patienten diese Prognosen, kann diese bei den Tests wie auch in den Patientengesprächen berücksichtigen. Es entsteht hier ein sehr mächtiges Werkzeug für den Arzt, das seine Aufmerksamkeit auf mögliche Problemfelder lenkt. Weit besser, als der Arzt dies auch mit der besten Ausbildung lernen könnte, und mit viel weniger Zeitaufwand pro Patient. Das ist also keine kleine Detailverbesserung - dieses Vorgehen ist ein echter Multiplikator für das gesamte Gesundheitssystem! Und wir bekommen dieses mächtige Werkzeug nur aufgrund der Kombination von verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen und zentralem Management des Gesundheitswesens.30
Auch wenn die Ärzte vom Staat bezahlt werden, so sind sie in der Poliklinik weit freier in ihrer Organisation und ihren Entscheidungen, als das für normale Angestellte oder Beamte der Fall wäre. Wie bereits gesagt, wollen wir unbedingt vermeiden, dass der Staat Mikromanagement der Ärzte betreibt. Das würde zu suboptimalen Behandlungen führen und die Ärzte demotivieren.
Stattdessen wird sich das Gehalt der Ärzte aus zwei Teilen zusammensetzen: Einem Grundgehalt und einem ergebnisorientierten Bonus. Das volle Grundgehalt erhält der Arzt, solange er mindestens eine bestimmte Anzahl an Aufwandspunkten, sowie ein Mindestmaß an Patientenzufriedenheit und Kompetenz erreicht.
Jeder Diagnosestellung und jeder vom staatlichen Gesundheitswesen abgedeckten Behandlung werden Aufwandspunkte zugeordnet. Am Anfang einfach festgelegt, in späteren Jahren aus dem durchschnittlichen Zeitaufwand gemittelt, den die Ärzte für diese Diagnose oder Behandlung angegeben haben (mit einem Bonus für wichtigere/effektivere Behandlungen). Dabei werden Aufwandspunkte dort gedeckelt, wo höherer Zeitaufwand nicht mehr durch ein besseres Ergebnis (Kompetenzbewertung) gerechtfertigt wird. Der Staat hat alle nötigen Daten, um diese Aufwandsgrenze statistisch zu ermitteln.
Die Mindestanzahl an Aufwandspunkten für das Grundgehalt wird nicht sehr hoch liegen. Sie soll nur verhindern, dass Ärzte vom Staat einfach fürs Nichtstun bezahlt werden.
Die Patientenzufriedenheit wird mithilfe der Gesundheitsapp ermittelt. In dieser wird jeder Bürger angehalten, Feedback zu jeder seiner Vorsorgeuntersuchungen und Behandlungen zu geben (Bewertung mit 1-5 Sternen). Dieses Feedback kann er auch später noch ändern. Zum Beispiel wenn die Schmerzen zurück kommen oder eine versprochene Verbesserung nicht eintritt.
Die Kompetenz wird durch den Staat ermittelt, anhand der Gesundheitsdaten, die er zentral verwaltet. Der Staat beschäftigt Spezialisten (und KIs werden helfen), die diese Daten stichprobenartig auswerten. Teilweise von der Behandlung selbst ausgehend (War die Diagnose anhand der Rohdaten korrekt? War die Behandlung aufgrund der Diagnose notwendig und richtig gewählt?), teilweise ausgehend von einer Nachfolgeerkrankung (Ein Patient geht mit einer Erkrankung zum Arzt. Welche Vorbehandlungen sind bereits geschehen, wann haben relevante Vorsorgeuntersuchungen stattgefunden? Zeigt die aktuelle Erkrankung, dass eine Vorbehandlung erfolglos war oder bei einer Vorsorgeuntersuchung etwas unerkannt geblieben ist?).
Aus diesen Daten kann eine Kompetenz des Arztes ermittelt werden.31
Um das Gesamtgehalt des Arztes zu berechnen, wird zunächst der Wert eines Aufwandspunktes für diesen Arzt berechnet. Dieser Wert wird höher oder niedriger sein, je nachdem wie hoch die Patientenzufriedenheit ist und wie kompetent der Arzt. Multipliziert mit der Zahl der Aufwandspunkte ist dies dann das Gehalt des Arztes. Der Arzt hat die Option, Krankenpfleger zu beschäftigen. Entweder allein, oder in Time-Sharing mit anderen Ärzten in derselben Poliklinik. Das Gehalt der Krankenpfleger wird von seinem Arztgehalt abgezogen. Aber die Höhe kann der Arzt nicht selbst festlegen. Stattdessen ist das Gehalt des Krankenpflegers ein fixes Grundgehalt, mit einem Bonus für Patientenzufriedenheit und Kompetenz des Arztes.
Die Formeln werden dann so austariert, dass sich das angestrebte durchschnittliche Arzt- und Krankenpflegergehalt ergibt.
Liegt das Gehalt eines Arztes nach diesen Berechnungen unterhalb des Grundgehalts, so erhält er zumindest das Grundgehalt (so er die Mindestvoraussetzungen dafür erfüllt). Es ist möglich, dass bestimmte Fachrichtungen einen Bonus oder Malus auf ihr Gehalt bekommen. Entweder aufgrund unterschiedlich hoher beruflicher Anforderungen, oder weil der Staat für mehr oder weniger Ärzte in bestimmten Fachrichtungen sorgen will (weil aktuell zu viele oder zu wenige Ärzte in einer Fachrichtung arbeiten).